Praxisbericht Arbeitsmedizin: Dr. Anne-Marie Albuszies Opel Automobile

‚Präventions-Befeuererin‘ aus Überzeugung

Gern stellen wir in unserer Serie „Praxisbericht von Experten für Experten“ heute Dr. Anne-Marie Albuszies vor. Sie ist 49 Jahre alt, verheiratet und Mutter eines erwachsenen Sohnes. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt. Seit über 15 Jahren Fachärztin für Arbeitsmedizin, seit gut 10 Jahren bei Opel tätig, zuvor beim TÜV Süd. Ihre klinische Ausbildung hat sie in Ulm, Amsterdam und Helsinki absolviert. Dr. Albuszies ist Halbfinnin.

Kurzes Warm-up: Beschreiben Sie doch einmal kurz Ihren Werdegang bei Opel 

Als wir aus familiären Gründen ins Rhein-Main-Gebiet zogen, bin ich bei Opel als Fachärztin für Arbeitsmedizin eingestiegen. Hier in der Automobilindustrie habe ich viel über die Wechselwirkung zwischen Arbeitsplatz und Mensch gelernt. Ich hatte das Glück, von tollen Mentoren unterstützt und gefördert worden zu sein. Meines Erachtens ist man gut beraten, sich an den erfahrenen Kollegen zu orientieren und den Kontakt zu ihnen zu suchen. Bei Opel gab es jede Menge erfahrener Kollegen, die mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Zusätzlich hat mich eine befreundete Psychologin über einen längeren Zeitraum als Coach begleitet. Das war sehr hilfreich für die Selbstreflexion, um das eigene Verhalten und Denken immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und mit der aktuellen Situation abzugleichen. Das halte ich der Rolle als Arbeitsmediziner für sehr wichtig. Die Inhalte verändert sich aktuell schnell ebenso wie die Rahmenbedingungen, die sich permanent erneuern. Da ist es meines Erachtens sehr wichtig, sich auch selbst immer mal wieder zu hinterfragen.

Steile Karriere bei Opel

Nach fünf Jahren bei Opel wurde ich vom Personalvorstand gefragt, ob ich die Leitung der Abteilung übernehmen möchte. Dieses Angebot fand ich sehr spannend und es kam zur richtigen Zeit. Somit habe ich es dankend angenommen. Neben den inhaltlich arbeitsmedizinischen Aufgaben kam in dem Zuge dann auch das Thema „Führung“ hinzu. Plötzlich musste ich lernen, ein Team von Kollegen und Krankenschwestern tagtäglich zu motivieren und im Namen einer übergeordneten Idee zu führen.

Letztes Jahr im Sommer kam das Unternehmen erneut auf mich zu mit der Fragestellung, ob ich zusätzlich die Arbeitssicherheit übernehmen möchte. Das war in der Tat ein schlüssiger Schritt, denn die Zusammenarbeit zwischen Gesundheit und Arbeitsschutz ist ein sehr guter Weg, um eine allumfassende Prävention für Mitarbeiter in Unternehmen gestalten zu können. So habe ich mich Ende letzten Jahres auch dieser Herausforderung gestellt und zusätzlich ein größeres Team an Sicherheitsingenieuren übernommen.

Neben der Arbeitsmedizin und -Sicherheit liegt das Thema Gefahrstoffmanagement am Campus in meinem Verantwortungsbereich. Inhaltlich laufen durch diese Risk-Management-Struktur nun alle EHS Compliance-Themen zusammen. Je länger ich mich mit den komplexen Themen befasse, desto mehr stelle ich fest, wie wichtig dieses vernetzte Denken und die intensive Schnittstellenarbeit im Unternehmen ist. Gerade bei der Vermeidung von Arbeitsunfällen, arbeitsbedingten Erkrankungen respektive Berufskrankheiten. Das ist aus meiner Sicht sogar der Schlüssel zum Erfolg.

 

Was war der entscheidende Auslöser für Sie, das Fachgebiet Arbeitsmedizin zu wählen?

Als ich im Rahmen meiner klinischen Ausbildung in Helsinki war, bin ich erstmalig mit dem Thema Prävention in Berührung gekommen. Finnland ist, was das Thema Prävention betrifft, ein vorbildliches Land. Noch vor 30 Jahren verzeichneten die Finnen verheerende Zahlen bei Herzkreislauferkrankungen. Mit Hilfe groß angelegter Gesundheitskampagnen zum Thema Ernährung, Bewegung und sonstigen Präventivmaßnahmen hat man es geschafft, im Laufe einer Generation die Anzahl an zum Beispiel Herzinfarkten drastisch zu reduzieren. Das hat mich damals sehr angesprochen.

Mir wurde klar, dass die Vorbeugung von Krankheiten deutlich nachhaltiger ist als die kurative Medizin, die durchaus auch ihren Reiz hat

Für mich war es viel überzeugender, die Menschen in ihrem Verhalten zu bestärken, möglichst gesund zu leben. Sei es der Verzicht aufs Rauchen, eine gesunde Ernährung oder auch regelmäßige Bewegung. Es motiviert mich enorm, eine Situation zu schaffen, die die Gesundheit nachhaltig positiv beeinflusst.

Ein weiterer entscheidender Punkt war meine Arbeit in Amsterdam. Dort habe ich in der Herz-Thorax Chirurgie gearbeitet. Ein häufiges Krankheitsbild war die koronare Herzkrankheit oder Herzklappen-Erkrankungen. Es war natürlich unheimlich faszinierend Bypass-Operationen und Klappenersatz oder gar Herztransplantationen zu begleiten. Wie weit der Mensch in die Integrität des Individuums eingreift, wie beispielsweise bei Herztransplantationen, hat mich damals stark beeindruckt und war wiederum ein weiteres Argument für die Prävention, die unter Umständen ein solches Eingreifen verhindern kann. Einerseits.

Am Ende führte mich ein Mix aus den verschiedenen Erfahrungen zu der Frage, was ich eigentlich als Mensch will. Da lag das Thema Arbeitsmedizin meinen Wertevorstellungen am nächsten. Und so kam ich zu dem Fach Arbeitsmedizin. Meinen Facharzt Arbeitsmedizin habe ich in Finnland begonnen und anschließend in Deutschland beendet.

 

Welche neuen Herausforderungen sehen Sie, die sich aufgrund der Corona Pandemie erst entwickeln?

Fast in allen Unternehmen ist das mobile Arbeiten nun schon eine feste Größe im Arbeitsalltag. Dies soll zukünftig auch bei Opel ein fester Bestandteil der Arbeitsgestaltung werden. Sollte sich das bestätigen, werden weitere Herausforderungen auf uns zukommen.

  • Im Zuge der Entstrukturierung des Tages und damit verbunden die fehlende Resonanz der Gemeinschaft ist eine wachsende Anonymität erkennbar. Je nach Prädisposition und Persönlichkeit können hieraus auch Fehlentwicklungen resultieren, wie sozialer Rückzug, Begünstigung von Suchtverhalten, Chronifizierung von depressiven Störungen. Die Themen, mit denen wir uns als Betriebsärzte auseinandersetzen, können sich dadurch verändern. Der Anteil psychischer Störungen und Fehlentwicklungen könnte steigen.
  • Teams in Zeiten von Digitalisierung und mobilem Arbeiten zu motivieren und anzuführen, erfordert ein Umdenken und neue Orientierung der Führungsaufgabe. Da kann ich auch aus eigener Erfahrung berichten. Als ich in den letzten Monaten ein komplett neues, mir bis dato unbekanntes Team von Sicherheitsingenieuren ausschließlich über skype erlebte, fehlte mir in der Kommunikation die Dimension der Körpersprache. Vielleicht muss ich aber auch dazu sagen, dass wir nur das Sprachmodul genutzt haben, ohne Video einzusetzen.
  • Grundsätzlich ist es schon klasse, von der ganzen Welt aus arbeiten zu können. So wie ich mich zurzeit in Helsinki aufhalte und von hier aus arbeite. Auf der anderen Seite wird es in meinen Augen noch etwas Zeit brauchen, bis wir uns diesen neuen Rahmenbedingungen angepasst haben. Wir haben jetzt schon Probleme, mit der Informationsflut und dem Tempo umzugehen, die uns die heutige Arbeitswelt abfordert. In letzter Zeit beobachten wir eine Verstärkung von Erschöpfungssyndromen. Aufgrund der schnellen Informationsverarbeitung nehmen Aufträge und Arbeitsumfang ein größeres Ausmaß an als noch vor 20 Jahren.
  • In vielen Köpfen ist noch verankert, dass der Mitarbeiter im Homeoffice nicht ausreichend und effizient arbeitet. Bei manchen Mitarbeitern entsteht das Gefühl nach „Beweispflicht“ „schau Chef, ich habe sehr wohl im Homeoffice gearbeitet und meine Aufgaben erledigt. Du kannst dich auf mich verlassen“. Sie kommen in eine Art Rechtfertigungsmodus.
  • In der Arbeitsmedizin gibt es zwar die Möglichkeit, Beratungen digital zum Beispiel per skype durchzuführen, aber dabei kann auch schnell einiges verloren gehen. Natürlich ist die Intensität der Beratung besser, wenn der Mensch persönlich vor einem sitzt. In dem Zuge kann zusätzlich ein Hautbefund angeschaut oder auch der gesamte Gesundheitszustand besser bewertet werden. Selbst per Video übersieht man möglicherweise das rote Auge eines Mitarbeiters oder sein Kontakt-Ekzem zwischen den Fingern. Wir müssen uns hier gut überlegen, inwieweit auf den persönlichen Kontakt verzichtet werden kann. Und wann er unbedingt stattfinden muss.
  • Für die reisemedizinische Beratung, bei der wir auch immer die individuelle Gesundheit mit im Blick haben, haben wir die Intensität unserer Angebotsuntersuchungen deutlich erhöht. Das gibt den Mitarbeitern, die auf Dienstreisen unterwegs sind, Handlungssicherheit. Sie können schnell mit uns in Kontakt treten, wenn es zu schwierigen Situationen auf Dienstreisen kommt.

Corona hat bewirkt, dass sich die Anzahl der Beratungen deutlich intensiviert haben. Unsere neue zentrale Funktion ist hier richtig zum Tragen gekommen. Zudem macht es immens viel Spaß, als Partner auf Augenhöhe mit allen Bereichen zusammenzuarbeiten. Wir sind quasi aus der zweiten Reihe herausgetreten und direkter Ansprechpartner für das Top-Management geworden, um gemeinsam Wege zu entwickeln, mit der neuen Situation einer Pandemie umzugehen. Es ist wirklich toll, zu sehen, wie das Thema Health & Safety, das bereits in der Unternehmensstrategie verankert ist, derart Fahrt aufgenommen hat und jetzt zu einem integralen Bestandteil geworden ist

 

Mit welchen Aufgaben und Herausforderungen beschäftigen Sie sich – neben Corona – in Ihrer Funktion als Leiterin Arbeits- und Gesundheitsschutz?

Aufgrund der Zusammenlegung der beiden Bereich Health & Safety durchlaufen wir einen sehr spannenden, aber wichtigen Veränderungsprozess im Unternehmen. Vor einiger Zeit habe ich mal einen Vortrag von Guido Lysk über die Rolle des Betriebsarztes in Unternehmen gehört, den ich klasse fand. Eine besondere Fähigkeit, die Arbeitsmediziner im Setting Betrieb haben, ist der „Beziehungsmanager“. Das kann ich tatsächlich unterschreiben. Wir sind Beziehungsmanager innerhalb des Fachbereichs, aber auch ein Beziehungsmanager in die Organisation hinein als „Brückenbauer“ für die miteinander verknüpften EHS-Themen hin zu den Businesspartnern aus der Umsetzungsstruktur, aber auch zu den Entscheidungsträgern.

In der neuen Rolle als Risk Manager, konnte ich in den ersten Monaten beobachten, dass die Mitarbeiter der verschiedenen Tätigkeitsfelder nicht viel über die Arbeit und Kompetenzen der Kollegen wissen. Es ist für uns ein großer Gewinn, dass nun aus zwei unterschiedlichen Perspektiven auf dieselbe Sache geschaut wird.

Wir haben festgestellt, dass unter Berücksichtigung beider Perspektiven am Ende tatsächlich ein besseres Ergebnis herauskommt

Bei der gemeinsamen Gestaltung unserer Vision von Arbeits- und Gesundheitsschutz gibt es wie so oft im Leben auch ein paar Hindernisse. Das Thema ist noch nicht vollständig in allen Köpfen angekommen. Ingenieure denken anders als Ärzte. Dennoch gibt es an dieser Stelle kein richtig oder falsch. Alle empfohlenen Maßnahmen sind vielmehr als gegenseitige Ergänzung zu betrachten.

Gemeinsam im Team arbeiten wir in erster Linie an der Harmonisierung vieler Health & Safety Themen, um die Vernetzung zwischen dem Arbeits- und Gesundheitsschutz bestmöglich zu intensivieren. Zum Beispiel sind wir gerade dabei, im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung für Gefahrstoffe den Vorsorgekatalog nach der arbeitsmedizinischen Vorsorgeverordnung in die Gefährdungsbeurteilung zu integrieren. Am Campus gibt es rund 6000 Gefahrstoffe, die ganz unterschiedliche Verwendungen finden. Diese Gefahrstoffe ordnen wir den passenden Angebots- und Pflichtvorsorgen zu. Das ist aufwendig aber lehrreich und reduziert das Risiko durch Schaffen von Awareness für die einzelnen Gefahren durch Gefahrstoffe. Darüber hinaus gibt es aktuell das Thema Maschinensicherheit. Durch anstehende Umbauarbeiten für den Anlauf des neuen Modells, den Astra, müssen wir zudem intensiver in den Freigabeprozess einsteigen. Auch hier geht es wieder um eine Gemeinschaftsleistung von Planung, Umsetzung, Technik und Sicherheit, damit am Ende alles unfallfrei dauerhaft in Betrieb genommen werden kann.

Im Augenblick dreht sich sehr viel um das Thema Arbeitssicherheit, das ich natürlich aus meiner Arbeitsmediziner-Perspektive schaue. Immer mit dem Ziel, Verlinkungsmöglichkeiten im Arbeits- und Gesundheitsschutz zu finden, um die Verhältnis- und Verhaltensprävention multidimensional zu optimieren. Mit dem Verständnis für beide Themen kann man Gemeinsamkeiten, aber auch Grenzen aufzeigen.

Ein weiteres Thema, mit dem wir uns aktuell beschäftigen, ist eine neue konzernweite Software für das Thema Gefährdungsbeurteilung im Arbeits- und Gesundheitsschutz. Die wollen wir zukünftig implementieren. Dafür braucht es elementare IT-Kenntnisse darüber, was eine neue Software leisten können muss und welche anwenderfreundlichen Features notwendig sind. Unsere Aufgabe ist hier, am Ende ein IT-Tool zu haben, welches sowohl technisch alle Anforderungen erfüllt als auch die Bedürfnisse des Anwenders trifft. Das ist ein Großprojekt, bei dem mein Team und ich mitarbeiten. Ein spannendes Projekt, welches sicherlich an Bedeutung gewinnen wird, sobald es um das Thema mobiles Arbeiten geht.

Allerdings wird die Beurteilung eines Arbeitsplatzes meines Erachtens weiterhin vor Ort stattfinden müssen. Gerade in den Produktionsstätten werden die Grenzen beim mobilen Arbeiten aufgezeigt.

Wichtig ist uns, dass die Gesundheit der Mitarbeiter beim mobilen Arbeiten nicht leidet

Zum Thema „Mobiles Arbeiten“ haben wir einen Leitfaden für den Büroarbeitsplatz zu Hause entwickelt. Die größten Gefahren gesundheitlicher Folgen sind hier in erster Linie das Arbeiten auf dem Küchenstuhl oder mit dem Notebook auf dem Sofa liegend. Dafür werden wir im Rahmen einer Betriebsvereinbarung mit dem Sozialpartner zukünftig die Vorgaben zur Verfügung stellen, die zudem verschiedene Arbeitsmittel beinhalten. Allerdings sind die Mitarbeiter auch aufgefordert, sich an die Vorgaben zu halten und die Prinzipien der Ergonomie zu Hause am Arbeitsplatz in jedem Fall beherzigen.

 

2018 wurde das Thema „Health und Safety“ sogar in Ihrer Unternehmensstrategie implementiert.

Das ist richtig. Diese gemeinsame Health & Safety Strategie bildet im Prinzip das Fundament für unsere gesamten Arbeits- und Gesundheitsschutz-Themen auf Konzern-Ebene. Zu dieser Strategie haben sich alle CEOs aus der PSA Gruppe committet.

Im Wesentlichen sind das drei Kernbotschaften:

  • Protecting people
  • Engaging people
  • Promoting Health and Wellbeing

Das sind Prinzipien, nach denen wir unser tagtägliches Handeln ausrichten, um den Arbeits- und Gesundheitsschutz im Alltag sichtbar zu machen. Es geht vor allem darum, gesetzte Standards im gesamten Konzern zu vereinheitlichen und entsprechende Maßnahmen voranzutreiben. Dazu gehört zum Beispiel – wie ich finde, ein schönes Marketing, aber auch Awareness Tool – die einmal im Jahr konzernweit stattfindende Health & Saftey Week, bei der wir Schwerpunktthemen zur Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz setzen.

Unsere konzernweiten Health & Safety-Standards werden jeweils auf Basis der lokalen Gesetzte harmonisiert. Das hat zwei Vorteile: Zum einen wächst das Unternehmen in sich weiter zusammen und zum anderen fungiert das Thema Health & Safety auch als gemeinsame Plattform, um die Menschen zu einem so wichtigen Thema wie Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zu vereinen. Das ist tatsächlich ein tolles Instrument, um verschiedene Kulturen wie Frankreich, Deutschland, Spanien oder auch Italien über diesen Weg in Einklang zu bringen. Denn völlig unabhängig von der Nationalität hat jeder ein eigenes Interesse daran, sicher und gesund zu sein.

Meine Rolle ist es, mich übergeordnet, um das Thema zu kümmern.

Ein Blick zurück: Wie schätzen Sie den Erfolg dieser Strategie ein? Sie setzen klar auf das Engagement und die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter. 

Aus meiner Sicht ist eigenverantwortliches Handeln nur über die Selbstbestimmung möglich. Das Unternehmen gibt die Orientierung über Standards, Regeln sowie die Arbeits- und Gesundheitspolitik vor – aber das Individuum ist gefragt, selbstständig und eigenverantwortlich sowohl für sich selbst als auch für seine Mitmenschen zu handeln.

Ich glaube an Selbstbestimmung. Das ist ein persönlicher Wert. Ich erlebe im Alltag sehr oft, dass Menschen sich selbst im Wege stehen und dabei schnell die Opferrolle annehmen. Gerade das ist im Arbeits- und Gesundheitsschutz fatal und birgt zudem viele Gefahren. Nicht nur fürs Individuum, sondern auch fürs Unternehmen. Fürs Individuum über die Resignation, wie zum Beispiel bei einer „Dienst-nach-Vorschrift-Haltung“, die dann zusätzlich die Produktivität einschränkt.

Wir als Health & Safety Bereich können bei diesem sehr wichtigen Thema unterstützen, indem wir die Mitarbeiter darin bestärken, selbstbestimmt und gleichzeitig verantwortlich für das Unternehmen zu handeln.

Funktioniert das gut?

Es ist wie bei allen Kulturthemen. Wenn wir heute eine Änderung in der Kultur vornehmen, merken die wir die Konsequenz in der Regel erst nach etwa 10 Jahren. Es gibt ein finnisches Institut für Arbeitswissenschaften, das beispielsweise untersucht hat, wie sich Kultur verändert. Das braucht einfach Zeit.

Aber falsch wäre, die Themen nicht anzupacken. Natürlich rede ich tagtäglich mit vielen Menschen, die noch nicht bereit sind, diese Perspektive zu teilen. Aber man darf nicht aufgeben. Ich glaube, das ist der beste Weg, um dieses Leben glücklich und mit Sinnstiftung zu führen. Aber na klar. Jeder Tag ist eine Herausforderung.

Menschen haben ihre eigenen Wahrheiten und kommen selten zu dem gleichen Ergebnis

Und dann gibt es noch diejenigen, die ungern Verantwortung übernehmen wollen. Andere wiederum wissen nicht, wie sie es umsetzen können und brauchen entsprechende Begleitung. Wir bewerten nicht die jeweiligen Sichtweisen. Im Gegenteil. Das genau ist ja mein Auftrag: Immer zu überlegen, wie man diese Menschen unterstützen kann, damit sie sich selbst helfen können, die Gesetze und Regeln im Gesundheits- und Arbeitsschutz einzuhalten. Genau das ist das große Thema bei der Prävention. Wir alle wissen, dass man sich gesund ernähren und regelmäßig bewegen sollte. Wir wissen, dass man nicht rauchen oder viel Alkohol trinken soll. Das sind keine Geheimnisse. Aber warum machen wir es dann nicht? Das ist die große Aufgabe für uns zu überlegen, wie wir den Menschen nahebringen können, warum es sich am Ende lohnt, das Thema Gesundheit und Sicherheit für sich zu entdecken. Für sich und andere.

In der Arbeitsmedizin hat man nicht nur das Thema Arbeit im Blick, denn Gesundheit und Sicherheit hört am Drehkreuz nicht auf. Hier geht es um eine Haltung, die wir jede Stunde des Tages anwenden können und von der wir in jedem Lebensraum profitieren können. Ich sehe eine große Stärke hinter dem Konzept, mit bestem Beispiel voranzugehen. Sicherlich kann man versuchen, mit Vorträgen, Unterweisungen, Aktionswochen zu überzeugen – das gehört alles natürlich dazu, aber der wirksamste Faktor ist, wenn man selbst für das steht, was man propagiert.

Deshalb finde ich es auch wichtig, wenn sich die Kollegen im Fachbereich „Health & Safety“ regelmäßig bewegen, sich gut ernähren und für dass, was sie vertreten, auch selber stehen.

 

Wie ist das Thema betriebliches Gesundheitsmanagement in ihrem Unternehmen strukturiert?

Das BGM ist bei uns im Fachbereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz aufgehängt. Wir haben dafür einen Integrationsmanager, der sich mit dem Thema BGM befasst. Er ist im Arbeitskreis organisiert und koordiniert sämtliche Aktivitäten. Auch hier verfügen wir über eine konzernweite Gesamtstrategie. Als Hauptschwerpunkte sind die Themen Muskel-Skeletterkrankung, psychische Gesundheit sowie das Thema Sucht definiert.

 

Wie sehen Sie den Stellenwert des betrieblichen Gesundheitsmanagements im gesellschaftspolitischen Kontext?

Mit der Dynamik, die wir durch Corona in die Segel bekommen haben, findet auch gesellschaftlich ein Umdenken beim Thema Gesundheit statt. Schon seit Jahrtausenden haben Infektionskrankheiten unsere Spezies immer wieder bedroht, beeinträchtigt oder dezimiert. Mittlerweile wissen wir jedoch immer besser damit umzugehen. Hygiene ist nicht neu und zu jeder Grippe-Saison immer wieder ein wichtiges Thema. Abstand halten hingegen, ist neu, aber auch unabhängig von der Gefahr einer Ansteckung ein wichtiger Aspekt, seinem Gegenüber einen gewissen Respekt entgegenzubringen und auszudrücken.

Die Entwicklung der Unternehmen, Arbeitsplätze mehr und mehr in den privaten Bereich zu verlagern, führt dazu, dass Mitarbeiter Gefahr laufen, dort zu vereinsamen. Bisher ging man morgens zur Arbeit und kam abends wieder nach Hause. Dazwischen finden soziale Kontakte statt, die wiederum auch eine Ressource sein können. Meines Erachtens können wir heute noch gar nicht in vollem Umfang überblicken, welche Konsequenzen die aktuelle Entwicklung auf die psychische Gesundheit der Mitarbeiter haben wird. Gerade in den Großstädten steigt die Zahl der Einpersonenhaushalte. Somit fehlt dort die sogenannte Resonanzkörper-Gemeinschaft. Aber gerade dabei entsteht eine hohe Widerstandsfähigkeit, insbesondere im Bereich der Resilienz. Vielen Menschen fehlt das Urvertrauen und damit die Zuversicht, dass am Ende „schon alles gut wird“. Insbesondere in der aktuellen Pandemiezeit, in der sie mit ganz neuen Ängsten konfrontiert werden, ist das Urvertrauen wichtiger denn je.

In den Betrieben stellen wir in der Tat eine Zunahme von psychosomatischen und psychischen Störungen fest

Dem gegenüber steht eine Entwicklung, die unter dem Begriff Change zusammengefasst wird. Unternehmen sind gefordert, sich innerhalb kürzester Zeit dem veränderten Marktgeschehen, wie zum Beispiel die aktuelle Pandemie-Entwicklung anzupassen. So stehen zum Beispiel in der Automobilindustrie plötzlich die Verbrennungsmotoren nicht mehr an oberster Stelle, wodurch viele Arbeitsplätze gefährdet sind. Auch die Arbeit an sich verändert sich. Es steht nicht mehr die klassische produktive Arbeit im Vordergrund, sondern vermehrt Steuerungs- und Überwachungstätigkeiten. Das wird sich im Rahmen der Digitalisierung noch weiter verschärfen. Aufgrund des Klimawandels hat in der Automobilindustrie ein Umdenken stattgefunden – weg vom Verbrennungsmotor hin zu elektrischen Antrieben. Unsere Produkte sind anders, ebenso unsere Arbeit und damit der Arbeitsschutz.

In der Produktion unseres Unternehmens arbeiten Mitarbeiter am Band, die im Durchschnitt 50 Jahre alt sind. Das heißt, in der Arbeitsmedizin geht es nicht mehr nur noch um die reine Vorsorgeuntersuchung. Das Thema betriebliches Eingliederungsmanagement nimmt einen deutlich größeren Anteil ein als früher. Auch die Prävention von Muskel-Skelett Erkrankungen steht bei uns stark im Fokus.

Wir haben zurzeit sehr viele schnelle Entwicklungen

Mary Barra hat bereits vor Jahren gesagt, dass bei GM in den nächsten fünf Jahren der Automobilindustrie so viel passieren wird, wie in den letzten 50 Jahren zusammen zuvor nicht passiert ist. Die Geschwindigkeit hat enorm zugenommen. All das hat Auswirkung auf uns Menschen.

Darüber hinaus gibt es übergeordnete Themen, die in die Lebenswelt „Arbeitsplatz“ einfließen und denen wir uns als Gesellschaft stellen müssen. Dazu gehört ganz klar die demografische Entwicklung, sprich einerseits das Überaltern der Gesellschaft, aber auch die faktische Zunahme der Bevölkerung. Auch die Digitalisierung und der Klimawandel wirken sich in der Arbeitswelt spürbar aus.

Uns ist das Ausmaß und die Dynamik noch nicht so ganz klar. Wir konnten uns vor einem Jahr nicht vorstellen, dass es so was wie einen Lockdown gibt. Die Frage ist, was bedeutet die Umwelt Entwicklung – welchen Analogieschluss könnte man dann zum Beispiel für das Thema Umwelt ziehen. Wenn ich mir den hübschen Sommer anschaue, dann bin ich doch schon erschrocken, wieviel deutlich wärmer es hier in Finnland ist, als es noch vor fünf Jahren war. Ich persönlich empfinde die spürbaren Veränderungen als bedenklich.

 

Wie schätzen Sie das Berufsbild heute und in der Zukunft ein? Was läuft schon gut? Woran sollte Ihrer Meinung nach noch gearbeitet werden. Was sind die entscheidenden Parameter?

In dieser Pandemiezeit ist der Arbeits- und Gesundheitsschutz bei den Unternehmen erheblich in den Fokus gerückt und die Wertschätzung dieses Bereichs immens gestiegen. Das ist meiner Meinung nach genau der richtige Zeitpunkt an diese Entwicklung anzuknüpfen.

Gleichzeitig wäre zu überlegen, wie das Problem der abnehmenden Anzahl von Hausärzten behandelt werden könnte. Ich kenne das Thema aus Finnland. Hier ist der Arbeitsmediziner in den Unternehmen auch kurativ tätig. Das bedeutet, die arbeitende Bevölkerung wird nicht von den Hausärzten außerhalb der Unternehmen betreut. Wird zum Beispiel im Rahmen eines Diabetes-Screenings eine entsprechende Diagnose gestellt, wird der Patient vom Arbeitsmediziner im Unternehmen auch gleich behandelt. Das ist eine sehr spezielle Vorgehensweise in Finnland.

Man könnte überlegen, welche Rolle der Arbeitsmediziner in Deutschland – zumindest anteilig – im Hinblick auf die hausärztliche Versorgung übernehmen kann

Wir bei Opel haben eine Betriebskrankenkasse und können aufgrund dessen auch im größeren Umfang Impfungen durchführen oder auch eine Heilmittelverordnung für Physiotherapien ausstellen. Meine Intension an dieser Stelle ist natürlich nicht, den Hausärzten die Patienten wegzunehmen. Es geht vielmehr um eine bessere Gesamtversorgung. Was würde dagegen sprechen, wenn wir im Rahmen des BEMs zum Beispiel Möglichkeiten hätten, einen Wiedereingliederungsplan zu gestalten? Im Rahmen der BEM-Sprechstunde kommt es hin und wieder vor, dass wir einen Maßnahmenplan korrigieren, der vom Hausarzt aufgestellt wurde, der naturgemäß wenig Kenntnisse über den Arbeitsplatz hat.

Das sind allerdings langfristige Überlegungen, die man prüfen könnte. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Unternehmen ein großes Interesse haben, dass die Mitarbeiter schnell wieder gesund werden und an den Arbeitsplatz zurückkehren. Da sehe ich noch Optimierungsmöglichkeiten in der Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten. Möglicherweise gibt es Themen, die in die Unternehmen hinein verlagert werden könnten. Ich denke, da gibt es noch Entwicklungsmöglichkeiten für ein ganz neues Denken in Deutschland. Wo können wir aus dem europäischen Ausland lernen? Was hat sich dort bewährt?

Wie ist denn die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und dem Hausarzt/Facharzt? Insbesondere im Rahmen einer Eingliederungsmaßnahme nach 1-2 Jahren Auszeit? Wird die Krankenakte des betreuenden Arztes dann ins Unternehmen übertragen, damit dort weitergearbeitet werden kann, oder wie muss man sich das vorstellen?

Aufgrund der Schweigepflicht darf der Hausarzt sein Wissen über die Krankengeschichte nicht einfach so mit uns teilen. Deshalb bringt der Mitarbeiter, der im Rahmen der Wiedereingliederung zu uns kommt, die Unterlagen zu seiner Krankengeschichte selbst mit. Manchmal gibt es noch ein CT oder MRT über einen Befund, den wir in elektronischer Form bekommen. Diese Daten sehen wir ein und bewerten sie allumfassend dahingehend, ob und wie er am alten Arbeitsplatz wieder eingesetzt werden kann. Sicherlich gibt es eine Schnittmenge zwischen behandelnden Arzt und Arbeitsmediziner, sodass es sinnvoll sein kann, über eine bessere Aufteilung der Aufgaben nachzudenken. In Finnland habe ich erlebt, dass es sich für den Heilungsprozess positiv auswirkt, wenn der Arbeitsmediziner umfassender in die kurativen Themen eingebunden wird, diese dann auch im Blick behält.

Kommt es denn häufig vor, dass Sie den Mitarbeiter gar nicht mehr auf seine alte Position einsetzen können und das Sie dann eine neue Stelle für ihn schaffen müssen?

Das kommt vor und nimmt aufgrund der Demografie auch immer weiter zu. Gerade im produktiven Bereich können Mitarbeiter oftmals nicht mehr am alten Arbeitsplatz eingesetzt werden. Gemäß BEM muss der Arbeitgeber aktiv nach Alternativen im Unternehmen suchen und im Sinne der Inklusion Weiterbeschäftigung ermöglicht. Darum kümmert sich bei uns das Integrationsteam. Hier werden die Fälle besprochen und geeignete Alternativen gesucht. Das ist in der Tat eine recht herausfordernde Aufgabe, weil freie, integrative Arbeitsplätze häufig schon belegt sind. Für solche Fälle werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Die Lösungen sind über Rotation oder organisatorische Maßnahmen zu finden. Das geht natürlich nur, wenn man mit den Bereichen intensiv zusammen arbeitet. Dazu gehört auch, dass das Thema BEM an sich eine hohe Akzeptanz im Unternehmen hat. Eigentlich wünscht sich jeder Meister oder Vorgesetzte lieber einen Triathleten, der alles kann und nach Möglichkeit nie krank wird, als jemanden mit gesundheitlichen Einschränkungen.

Das sind alles Faktoren, die den Erfolg des betrieblichen Eingliederungsmanagements stark beeinflussen. Dazu gehört meines Erachtens auch, dieses Thema in der Unternehmenskultur zu verankern. Sprich, Mitarbeiter, die über Jahre hinweg treu und fleißig gearbeitet haben, auch dann weiter zu beschäftigen, wenn ihre Leistungsfähigkeit durch gesundheitliche Probleme abnimmt. Da erlebe ich Opel wirklich als ein sehr tolerantes Unternehmen, welches an dieser Stelle den sozialen Gedanken mitträgt. Wir haben in der Vergangenheit immer eine Lösung gefunden und ich kann mich an keine krankheitsbedingte Kündigung bei Opel erinnern.

Ich bin mal gespannt, wie sich das jetzt nach Corona entwickelt. Das wird sicherlich ja noch mal einen kleinen Turbo – Effekt haben, weil natürlich das Unternehmen jeden Mitarbeiter braucht, um auch wieder ins Arbeiten zu kommen.

 

Was empfehlen Sie Kollegen, die über den Schritt nachdenken, in die Arbeitsmedizin zu wechseln?

Vorab sei gesagt: Wenn man als Arzt gerne operiert, sollte man nicht in die Arbeitsmedizin wechseln. So mal als Einstieg.

In der Prävention geht es in erster Linie darum, Verhaltensmuster positiv in Richtung Gesundheitsförderung zu verändern und die notwendigen Verhältnisse und Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Das braucht in der Regel viel Zeit. Hier ist es wichtig, die Vogelperspektive einzunehmen und sich zu überlegen, was dem großen Ganzen guttut. Dafür ist visionäres und strategisches Denken von Bedeutung. Genauso wie das Denken in Wechselwirkungen. Wo kann ich als Werksarzt im Unternehmen Impulse setzen? Welchen Weg möchte man im BGM einschlagen? Dafür braucht es neben dem fachlichen Know-how auch bestimmte Eigenschaften, wie zum Beispiel eine integrative und empathische Persönlichkeit. Man muss in der Lage sein, sich auf viele unterschiedliche Menschen einstellen zu können. Als Arbeitsmediziner ist man eine Art Beziehungsmanager. Manchmal ist man aber auch als Mediator gefragt. Gerade wenn es um Konflikte am Arbeitsplatz geht. Ebenso wichtig ist es, die ungeschriebenen Gesetzte der Organisation zu kennen und die verschiedenen Player und Wechselwirkungen im System zu verstehen. Vorsichtig moderierend versuchen, Impulse zu setzen und die Organisation für ein gesundheitsförderliches Mindset zu begeistern.

Wenn man perspektivisch gerne in der Verantwortung stehen möchte, braucht man zudem Führungseigenschaften. Damit sollte man sich vorher intensiv auseinandersetzen. Aber, und das ist meine feste Überzeugung, man kann alles lernen! Sie sehen, das ist eine sehr spannende Aufgabe. Mir macht es Freude und ich habe den richtigen Platz für mich gefunden.

 

Herzlichen Dank für das Interview!