Wieviel Arzt steckt tatsächlich noch in einem Chief Medical Officer bei der Deutschen Post DHL Group?

 

Andreas_Tautz

In unserer Serie „Praxisbericht aus dem betrieblichen Gesundheitsmanagement von Experten für Experten“ stellen wir heute Dr. Andreas Tautz, Facharzt für Arbeitsmedizin, vor. Er berät die Deutsche Post DHL Group weltweit in allen relevanten Gesundheitsfragen, leitet das Gesundheitsmanagement des Konzerns in Deutschland und ist seit 2002 leitender Arzt der Deutschen Post AG. Darüber hinaus ist er Mitglied in unterschiedlichen Gremien und Fachgesellschaften, wie z.B. Vorstandsmitglied der DGAUM e.V.

Dr. Tautz, mögen Sie sich kurz vorstellen?

Ich wollte ursprünglich Schriftsteller werden. Als mir aber klar wurde, dass das ein langes Studium und ungewisse Erfolgsaussichten beinhaltete, habe ich mich zunächst für eine Krankenpflegeausbildung entschieden. Daran schloss sich ein Medizinstudium in Düsseldorf an, wo ich dann auch zu Ende studiert habe.
Ich arbeite heute in der vierten Generation meiner Familie bei Deutsche Post DHL Group. Das war zwar nicht beabsichtigt, aber die Familie hat mich wohl schon geprägt: Vom Uropa über den Opa,  mein Vater und  meine Mutter – eine komplette Posthistorie.

Warum arbeiten Sie in der Präventivmedizin? Was war der entscheidende Auslöser für Sie, dieses Fachgebiet zu wählen?

Ich habe schon früh damit geliebäugelt hat, in die Arbeitsmedizin zu gehen. Es war zumindest immer in meinem Hinterkopf. Da mein Vater Fachkraft für Arbeitssicherheit war, hatte ich in der Tat schon als Kind Berührung mit dem Thema ‚Betriebsärzte‘.  Nach Ende des Studiums habe ich aber erst einmal in der Inneren Medizin begonnen zu arbeiten. Ich mochte es, im Krankenhaus zu arbeiten. Dennoch wurde mir schon früh klar, dass man dort sehr wenig beeinflussen kann.

Den akuten Krankheitsstatus eines Patienten natürlich, aber das Umfeld nicht. Das hat mich damals schon nachdenklich gestimmt. Nachdem das Krankenhaus dann in eine Fachklinik für Rheumatologie und Orthopädie umstrukturiert wurde, habe ich noch einige Zeit in der Rheumatologie gearbeitet und dort viel gelernt, was ich im Alltag verwenden konnte. Allerdings habe ich auch verstanden, dass mein Herz nicht an der Fachrichtung Rheumatologie hängt.

Dann hatte die Deutsche  Post Stellen im Bereich Arbeitsmedizin ausgeschrieben. Das war zu Zeiten des Ärzteüberschusses, das Angebot an Ausbildungsstellen war gering und in der Arbeitsmedizin gab es dann nochmal deutlich weniger Möglichkeiten. Und trotzdem – nach einem guten Vorstellungsgespräch und einer intensiven Einweisungsphase – startete ich in die Welt der Arbeitsmedizin.

So bin ich dann mehr oder weniger zufällig  bei der Deutschen Post angekommen und  geblieben. Angefangen habe ich als Betriebsarzt in Köln, bin dann in die Konzernzentrale gewechselt und  habe später die Leitung des betriebsärztlichen Dienstes und letztlich die Leitung des Konzerngesundheitsmanagements übernommen.

Welche Aufgaben und aktuelle Herausforderungen müssen Sie in Ihrer Funktion bewältigen? Sind sie eher strategischer Natur?

Es ist durchaus so, dass ich weiterhin eine ärztliche Grundfunktion habe, aber im Kern agiere ich aus der strategischen Perspektive heraus.

Mein Aufgabengebiet teilt sich in verschiedene Bereiche auf. Das eine ist die Aufgabe des sogenannten Chief Medical Officers, der die Beratungsfunktion in allen relevanten Gesundheitsfragen für den gesamten Konzern innehat.  Dabei geht es um die Beratung der Führungskräfte zum Beispiel beim Thema Risikomanagement in ihren Bereichen oder global zunehmende chronische Erkrankungen.

Und es geht auch um Krankheitsepidemien oder -pandemien, wie beispielsweise die Verbreitung der Ebola- oder Zika-Viren oder vor einigen Jahren die H5N1 Influenzapandemie. Solche Pandemien können in der Logistik relativ schnell Auswirkungen zeigen. Gleichzeitig muss  unser Geschäft immer handlungs- oder im wahrsten Sinne des Wortes lieferfähig sein. Hier geht es vor allem um schnelle Reaktionsfähigkeit und gut überlegte Notfallszenarien.

Zu meinem Aufgabengebiet gehört auch das Thema der Prävention chronischer Erkrankungen. In Zusammenarbeit mit den Kollegen des internationalen Versicherungsmanagement entwickeln wir Lösungen, wie wir systematisch und weltweit der wachsenden Zunahme chronischer Erkrankungen entgegentreten können.

Darüber hinaus bin ich Netzwerker und betreue Interessengruppen – bei uns verbirgt sich diese Aufgabe hinter dem Begriff Stakeholdermanagement.  Hier vertrete ich zum Teil den Konzern in entsprechenden Netzwerken, wie zum Beispiel Enterprise for Health oder Target Depression at the Workplace als auch im Gesundheitsmanagement unseres Unternehmens in Deutschland.

Hier haben  wir ein sehr effektives Managementsystem, zur Gesundheitsförderung, etabliert. Dieses System existiert bereits seit Ende der 90 Jahre und wird seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. In den letzten Jahren wurden über unsere lokalen Betriebsärzte zwischen 30.000 und 40.000 Maßnahmen zur Gesundheitsförderung pro Jahr initiiert. Im letzten Jahr hatten wir einen Rekordwert mit 50.000 Maßnahmen. Diese gesundheitsfördernden Maßnahmen erreichen einen sehr hohen Anteil unserer Beschäftigten.

Unser Unternehmen befindet sich in einem permanenten Wandel: in einer globalisierten Welt und in starkem Wettbewerb zu anderen Anbietern stellen wir aber  nach wie vor den Benchmark der Arbeitsbedingungen  und Arbeitsmittel in unserer Branche.

In der Logistik werden üblicherweise keine hohen Margen verdient, und doch bildet sie das Rückgrat des Welthandels und trägt bedeutend zum individuellen Wohlergehen der Menschen bei. Dabei sind wir als Unternehmen immens auf das Engagement, die Loyalität und Leistungsfähigkeit unserer   Mitarbeiter angewiesen. Jeder Mitarbeiter ist Teil der Logistikkette. Da wo Mitarbeiter ausfallen ist diese erst einmal unterbrochen. Wie wichtig die Logistikkette ist, konnten wir selber vor einigen Jahren am Beispiel der Vorbereitungen auf eine Influenzapandemie lernen  – übrigens ein Thema, das auch aktuell wieder auf dem G20 Gipfel die Politiker beschäftigen wird. Unsere Aufgabe im Konzern war es, ein entsprechendes Risikomanagement zum Thema H5N1-Influenzapandemie für unsere rund 510.000 Mitarbeiter weltweit und aufzubauen. Dabei haben wir uns regelmäßig mit Kollegen, auch aus anderen Unternehmen abgestimmt, wie wir uns am besten für ein solches Szenario  aufstellen können.  Nur haben wir dann festgestellt, dass in den anderen Unternehmen Szenarien für  einen Tag x entworfen wurden, an dem dann klar war, dass z.B. die Hochöfen in der Stahlindustrie runtergefahren werden müssen – je nachdem wie viele Leute ausgefallen sind und wie weit die Pandemie fortgeschritten ist.

Aber bei uns in der Logistik ist es genau umgekehrt. Wir müssen auf den Tag x hinarbeiten und gerade in der Krise leistungsstark bleiben. Medikamente und Hilfsmaterialien müssen transportiert, Lebensmittel müssen geliefert werden. Trotz allen Aufwands wurde mir damit deutlich, was ich hier alles– gerade in Krisenzeiten – bewegen kann. Das macht bei allem akuten Stress viel Spaß.

Ich leite in der Funktion des leitenden Arztes zudem den betriebsärztlichen Dienst der deutschen Post AG. Wir beschäftigen hier rund 90 Betriebsärztinnen und Betriebsärzte,  zusätzlich zu unseren sehr wichtigen medizinisch-technischen Fachangestellten. Ich gehe davon aus, dass wir damit auch der größte betriebsärztliche Dienst in Deutschland sind.

Die Arbeitsmedizin wandelt sich: Von einer ursprünglich gefahrstoffdominierten Arbeitsmedizin, wo die arbeitsmedizinische Tätigkeit sehr praxis- und Untersuchungsorientiert geprägt war, ist es jetzt eher umgekehrt. Einen Großteil unserer Tätigkeit verbringen  wir vor Ort bei den Mitarbeitern und in der Diskussion mit den Führungskräften. Das macht heute nahezu 50 % der Arbeitszeit aus.

Wie hoch ist das Durchschnittsalter der Arbeitsmediziner bei der Post?

Das Durchschnittsalter der Arbeits- und Betriebsmediziner ist in den letzten Jahren deutlich gesunken. Das liegt auch an einer im Unternehmen getroffenen Grundsatzentscheidung ausschließlich mit einer unternehmensinternen betriebsärztlichen Infrastruktur zu arbeiten und dadurch die Zahl der im Unternehmen tätigen Betriebsärzte zu erhöhen. Die neuen Kollegen senken den Altersdurchschnitt und beleben den Dialog zwischen älteren und jungen  Kollegen.  Die regelmäßig durchgeführte Befragung der Mitarbeiter von Deutsche Post DHL Group zeugt von einer hohen Zufriedenheit und einer signifikanten Steigerung in Bezug auf das Engagement unseres betriebsärztlichen Dienstes über die letzten Jahre.

Wie entwickeln Sie das Thema BGM in Ihrem Unternehmen weiter?

Wir haben gerade zusammen mit unseren Personalentwicklern ein FK Modul zum Thema Führung und Gesundheit entwickelt. Es ist Bestandteil unseres sog. Certified Programms, dass sich zum  Ziel gesetzt hat, bis 2020 80% unserer 510.000 Beschäftigten weltweit durch das Programm geführt zu haben. Im Certified Programm möchten wir allen Mitarbeitern die Entwicklung unseres Unternehmens erläutern – was macht unsere Wurzeln aus? Wo steuern wir hin? Was ist die Bedeutung jedes Einzelnen? Wie kann ich selbst gestalten? In unserem Modul geht es primär darum, vor Ort betriebslenkende Kräfte in ihrer Rolle als  Führungskraft und Gesundheitsmultiplikator zu unterstützen.

Wir halten dabei an unserer BGM-Grundstruktur fest und folgen dem Modell der gesunden Arbeitsplätze der Weltgesundheitsorganisation, das auf vier Säulen baut: Der Gestaltung physisch, wie psychomental gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen, der individuellen Gesundheitsförderung und einem Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Gesundheit.

Eine große Rolle spielt auch die Beratung des Unternehmens im Hinblick auf die Digitalisierungseffekte in der Logistik, hier z.B. die arbeitsmedizinische Begleitung neuer Arbeitstechniken im Themenfeld ‚Augmented Reality‘(Datenbrille), sowie die Begleitung bei der Entwicklung neuer Arbeitsmittel, wie z.B. unserem Streetscooter (elektrisches Zustellfahrzeug)  und der Erprobung von Exoskeletten.

Wie vielseitig sehen Sie die Aufgabenfelder bei Ihnen im Unternehmen?

Bei uns gibt es relativ viele unterschiedliche Berufsbilder und für Arbeitsmediziner bietet sich ein großes Spektrum an Tätigkeitsfeldern. Auf Deutschland bezogen dominiert natürlich die Paket- und Briefzustellung. Wenn Sie als Betriebsarzt zu uns kommen, werden Sie im Kern klassisch mit diesem Themenfeldern zu tun haben – von der Zugspitze, bis Helgoland. Sie können aber auch mit Call Centern, Technikberatungen, dem Bereich der Automobilentwicklung, oder der Flughafenbetreuung beauftragt werden.

Die Logistik unterliegt beständig dynamischen Veränderungen. Bei uns seit 1490.  Die Digitalisierung erfordert eine exzellent abgestimmte Logistik. Die Anforderungen an zeitliche Flexibilität, an eine schnelle, z.T. unmittelbare Zustellaktivität  wachsen rasant. Wir beschäftigen uns mit neuen Themenfeldern, wie u.a.  der Drohnenzustellung und dem Einsatz von Datenbrillen in der Lagerlogistik. In Leipzig betreuen wir Europas größtes Frachtdrehkreuz. inkl.  flugmedizinischer Betreuung.

Zusätzlich unterstützen wir mit dem betriebsärztlichen Dienst eine Gesundheitsstation in Nepal. Sowohl finanziell, wie auch durch Einsätze von Betriebsärzten vor Ort. Sie sehen, dass eine große Dynamik in unserem Unternehmen und unseren Betriebsärzten steckt.

Was empfehlen Sie Kollegen, die über den Schritt nachdenken, in die Arbeitsmedizin zu wechseln?

Es ist wichtig, offen zu bleiben für neue Anforderungen und nicht zu verzweifeln, wenn es doch komplexer ist, als man es sich vorgestellt hat. Ich glaube, es gibt wenige breiter angelegte ärztliche Berufe als in der Arbeitsmedizin. Man steht aber oftmals auch im Brennpunkt zwischen unterschiedlichen, z.T. gegenläufigen, Interessen. Beim Mittelständler genauso, wie im Großunternehmen. Deswegen erfordert der Beruf als Arbeitsmediziner, egal in welcher Position, eine gehörige Portion  Überzeugungskraft, Diplomatie und Beharrungsvermögen.

Die Verdienstmöglichkeiten in der Arbeitsmedizin sind gut und letztendlich auch die Optionen im vielzitierten Thema Work-Life Balance. Ich finde, dass Work-Life Balance ein sehr unglücklich gewählter Begriff ist, denn im Grunde redet man von der Life Balance. Dazu gehört auch Arbeit. Die arbeitszeitlichen Gestaltungsmöglichkeiten sind sicherlich auch ein Motivationsgrund, warum Kollegen zu uns in den arbeitsmedizinischen Dienst kommen.

Wie entwickelt sich das Öffentliche Interesse beim Thema BGM?

Das weltweit größte Präventionssetting erreicht die meisten Menschen am Arbeitsplatz. Wir haben in Deutschland z.B. über 40 Mio. Erwerbstätige, das ist mehr als die Hälfte der gesamten Bevölkerung. Der Großteil kann zum Thema Gesundheit also über den Arbeitsplatz erreicht werden.

Wir sehen aber auch zunehmend Mitarbeiter, die sich interessiert zeigen und aktiv fragen, welche Angebote es in den Unternehmen für sie gibt

Die WHO hat erneut empfohlen, in den Ländern Gesetze zur Förderung der Gesundheit zu   veröffentlichen. Sie sollen das Thema Gesundheit in einen strategischen Rahmen setzen und in definierten Präventionssettings ausgestalten. In Deutschland gibt es das Präventionsgesetz, das auch die Unternehmen stark in den Fokus einer nationalen Präventionsstrategie rücken lässt.

Große Kunden wollen zunehmend wissen, wie man zum Thema Gesundheitsmanagement aufgestellt ist. Ob es entsprechende Strategien  gibt und ob entsprechende Kennzahlen veröffentlicht werden.

Das gilt durchaus auch für Investoren, die mehr und mehr darauf schauen, dass z.B. die Unternehmen in den Nachhaltigkeitsindices gelistet sind.

Wie bewerten Sie den Stellenwert „BGM“ allgemein im Unternehmen?

Ein großes Thema, dem man sich von unterschiedlichen Ebenen aus annähern kann. Die Einen  beschäftigen sich mit Fragen wie zum Beispiel „Was ist eigentlich betriebliches Gesundheitsmanagement“? „Wer soll das machen“? Andere mit: „Was macht das betriebliche Gesundheitsmanagement eigentlich inhaltlich“ und „Warum soll man es von Unternehmensseite aus eigentlich betreiben“?

Im Kern verbergen sich hinter dem Begriff „Betriebliches Gesundheitsmanagement“ alle Prozesse, die darauf einzahlen, die Mitarbeiter gesund und damit auch deren Arbeitsfähigkeit zu erhalten. So kann ein Unternehmen letztendlich produktiv bleiben. Das muss man im Unternehmen erklären. Es geht darum, im Unternehmensinteresse dafür zu sorgen, dass Mitarbeiter in einem gesundheitsförderliches Arbeitsumfeld nachhaltig in der Lage sind, ihren Job gut auszufüllen.

Häufig trifft man  auf ein Gesundheitsverständnis, dass sehr utilitaristisch geprägt ist: Gesundheitsdefinitionen, wie z.B. „nur gesunde Mitarbeiter sind leistungsfähig und kreativ“, oder „nur gesunde Mitarbeiter sind gute Mitarbeiter“. In einer Zeit, in der chronische Erkrankungen deutlich zunehmen und ein wesentlicher Anteil der Arbeitsnehmer – ganz ohne Leistungseinbußen – von chronischer Krankheit betroffen ist, passt dieser Ansatz nicht mehr.

Arbeit besitzt enormes gesundheitsförderliches Potential. Ein guter Arbeitsplatz kann erheblich  dazu beitragen, dass Mitarbeiter nicht nur gesund bleiben, sondern ihre Gesundheit auch stärken. Umgekehrt kann eine schlecht gestaltete Arbeit stark dazu beitragen, dass chronische Erkrankungen, sog. Zivilisations-Erkrankungen, erst entstehen.

Die Weltgesundheitsorganisation  und das Weltwirtschaftsforum warnen massiv  vor einem globalen Voranschreiten der Zivilisationserkrankungen. Im Wesentlichen handelt  es sich hier um chronische Erkrankungen, wie Herz-Kreislauferkrankungen, Depressionen, Stoffwechselerkrankungen (insbesondere Diabetes), Krebs- und chronische Atemwegserkrankungen. Die vier erstgenannten  Erkrankungen, plus Muskelskeletterkrankungen, fallen dabei auch  in das Spektrum arbeitsbedingter Erkrankungen.

Arbeit hat also einen erheblichen Einfluss auf die Gesellschaft und die aus Erkrankung resultierenden volkswirtschaftlichen Folgekosten. Die Gestaltung der Arbeit, der Umgang miteinander, entscheidet wesentlich mit  über Gesundheit oder Krankheit. Haben Mitarbeiter zum Beispiel über einen längeren Zeitraum das subjektive Empfinden, die an sie gestellten Arbeitsanforderungen nicht erfüllen zu können, steigt das Risiko an Diabetes oder an einer Depression zu erkranken signifikant an. Das gilt ebenso für Muskel-Skelett Erkrankungen und das Risiko von Herz-Kreislauferkrankungen.

So kommen wir wieder beim Gesundheitsmanagement an. Es ist also nicht allein das klassisch tradierte Einwirken auf die individuelle Gesundheit des Patienten im therapeutischen Sinne, sondern der therapeutische als auch der gestalterische Ansatz im Hinblick auf die Managementberatung und der Gestaltung der Arbeit. Gerade das macht die Arbeitsmedizin für mich so spannend.

Wie können diese Zivilisationskrankheiten Ihrer Meinung nach minimiert oder vermieden werden? Wie gestaltet man gesundheitsförderliche Arbeit?

Die Grundanforderung an Arbeit ist im Kern: Arbeitnehmer müssen verstehen, was sie tun sollen. Idealerweise gibt es Raum für Mitgestaltung und die Tätigkeit wird als sinnvoll empfunden. Dazu kommt noch eine fair entlohnte und sichere Arbeitsstelle. Zu unseren Grundbedürfnissen gehört Sicherheit, Gestaltungsmöglichkeit und Respekt. Das heißt wir streben nach Erfüllung unserer existentiellen  Grundbedürfnisse (z.B. gesicherte Ernährung  und ein sicheres Lebensumfeld), aber auch nach ein gestaltenden Rolle im gesellschaftlichen Umfeld, der Arbeit – hier wollen die Menschen im Team agieren, ihre Fähigkeiten einbringen und dafür im Gegenzug Respekt und Wertschätzung erfahren.

Im Gesundheitsmanagement sind die Fragen nach den menschlichen Grundbedürfnissen essentiell.  Internationale Untersuchungen  zur Frage was  Menschen bei der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle am meisten beeinflusst oder sie bei der Arbeit am meisten motiviert, zeigen: Weit oben steht Respekt, gefolgt vom Wusch im Team agieren und gestalten zu können. Danach geht es um Faktoren wie Grundgehalt und eine sichere Arbeitsstelle. Variable Leistungen, wie zum Beispiel Bonuszahlungen stehen an letzter Stelle.

Haben Beschäftigte das (subjektive) Empfinden, dass ihre Arbeit – und ihr Engagement – nicht wertgeschätzt wird, verdoppelt sich bereits nach wenigen Monaten das Risiko an einer Herz-Kreislauferkrankung oder und / oder depressiven Störung zu erkranken.

Ein respektvoller Umgang und ein ‚Danke‘ ist oft entscheidend und gesundheitsförderlich. Und natürlich gehören Maßnahmen, wie eine  ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, die Gestaltung entlastender Arbeitsmittel, ebenso wie die individuelle Gesundheitsförderung zum Grundrüstzeug des Gesundheitsmanagements.

Wie schätzen Sie das Berufsbild AM ein? Heute und in der Vergangenheit?

Sie finden im Beruf des Arbeitsmediziners die unterschiedlichsten, insbesondere präventivmedizinischen, Facetten, bei denen es  sich sowohl um individuelle ärztliche Betreuungsanlässe, als auch um unternehmensorganisatorische systemische Beratungsanlässe handeln kann.  Es geht immer wieder darum, neue Herausforderungen zu gestalten. Das ist im ärztlichen Beruf, glaube ich, nur in wenigen anderen Fachrichtungen möglich.

Der Rahmen betriebsärztlicher Tätigkeit hat sich über die Jahre sehr verändert.  Als Betriebsarzt gehen Sie heute zu den Menschen. Sie müssen aktiv mit ihnen diskutieren und verstehen, was ihnen auf dem Herzen liegt – ob Mitarbeiter, Betriebsrat oder Management. Das heißt, die Tätigkeit des Arbeitsmediziners erfordert  die Bereitschaft und die Fähigkeit zu kommunizieren und dabei auch ein gewisse Moderationsfähigkeit, Introspektionsfähigkeit und Resilienz mitzubringen. Ich erinnere mich an die Anfänge meiner betriebsärztlichen Tätigkeit. Ich wurde damals in den Betrieb  gerufen, weil Druckerpatronen  einer Kodieranlage ausgelaufen waren. Die Techniker standen mit Atemschutzgeräten vor Ort. Die im Nebenraum arbeitenden Kodierkräfte waren entsprechend verunsichert, einige klagten über Übelkeit und Kopfschmerzen. Meine spontane (und richtige) Empfehlung damals lautete, die Kodierung abzubrechen und den Messbeauftragten der BG hinzuzurufen. Das hieß aber, dass die gesamte Niederlassung ihr komplettes Sendungsnetz für den Tag entsprechend abmelden musste. Der Geschäftsführer war entsetzt und ich realisierte die enorme Auswirkung. Die Kunden würden ihre Sendungen verspätet erhalten, wir müssten komplett umrouten und würden einen riesigen Mehraufwand haben. Solche  Situationen mit vergleichbar schwerwiegenden Folgen gibt es immer wieder. Aber das gehört zum Beruf.

Entscheidend ist, dass Sie den Menschen erklären können, warum Sie welche Beratungsaussage treffen – sei es in ähnlichen Situationen, wie gerade geschildert, bei Gutachten und anderen  arbeitsmedizinischen  Beratungsanlässen. Und gelegentlich passiert es auch, dass man eine Meinung revidieren oder  einen anderen Weg finden muss, um eine Situation letztlich zu lösen.

Es gibt in der Arbeitsmedizin natürlich auch die klassisch diagnostischen, bis zum Teil therapeutischen Handlungsfenster. Ich habe in meiner arbeitsmedizinischen Tätigkeit mehr Krankheiten frühzeitig diagnostizieren und die Beschäftigten einer erfolgreichen Therapie zuführen können, als in meiner klinischen Zeit.

Erkrankungen können alle Mitarbeiter inkl. Management treffen. Wir haben bei uns seit vielen Jahren einen Führungskräfte-Checkup im Unternehmen etabliert, der sich sehr hoher Wertschätzung erfreut. Anfangs kamen Führungskräfte, die die Bestätigung wollten, wie gut sie gesundheitlich unterwegs sind. Mit der Zeit kamen dann aber auch immer mehr Führungskräfte, die merkten, dass vielleicht nicht alles optimal läuft.  Das sind unsere eigentlichen Adressaten des Angebots. Dabei sind die Führungskräfte auch immer die Multiplikatoren für das Themenfeld Gesundheit und sind Vorbild für die Inanspruchnahme der Gesundheitschecks für alle unser Beschäftigten.

Die Anforderung an die Arbeitsmedizin unterscheidet sich im Großunternehmen im Vergleich zum Mittelständler oder Kleinunternehmen in den Rahmenbedingungen der Erbringung der ärztlichen Tätigkeit. Aber im Kern bleibt sie immer gleich

Vor welchen Herausforderungen stehen die AM heute?

Die AM lebt vom Engagement der Betriebsärzte, dem Engagement der Führungskräfte der jeweiligen Unternehmen für ein nachhaltiges Gesundheitsmanagement und den politischen Rahmenbedingungen.  Als Betriebsarzt handelt man fast  immer in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Interessenlagen.

Problematisch, mindestens herausfordernd sind aber konkret zwei Dinge – der unmittelbare kurzfristige Erfolgsdruck auf die Unternehmen, der sich nicht immer mit einem nachhaltigen Gesundheitsmanagement vereinbaren lässt und die politischen Rahmenbedingungen für die betriebsärztliche Tätigkeit.

Welche Anforderung gibt es an die Führungskultur im Unternehmen in Bezug auf BGM

Heute findet man in Unternehmen oder in der Politik viele Menschen, die noch an das Bild des Homo Oeconomicus glauben, der als Arbeitnehmer ausschließlich rational agiert und entsprechend gesteuert werden muss. Würden wir alle diesem Menschenbild entsprechen, müsste unser Interesse im Sinne eines hohen „Return on Invest“ sein, d.h. möglichst spät bei der Arbeit zu erscheinen, möglichst früh nach Hause zu gehen und dazwischen möglichst wenig zu tun – und das bei einem möglichst hohen Gehalt.

Dass die Menschen so nicht funktionieren – ist offensichtlich. Die Grundbedürfnisse sind genau umgekehrt: es geht darum, die Existenz abzusichern, in sozialen Interaktionen zu agieren, mitgestalten zu können und dafür Wertschätzung zu erfahren. Betriebsärzte übernehmen hier auch die Funktion des klassischen Unternehmensberaters, z.B. dahingehend, welche Rahmenbedingungen produktive und engagierte Teams ausmachen.

Wenn man also über betriebliches Gesundheitsmanagement nachdenkt, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, wie gute Arbeit letztendlich aussehen soll. Betriebliches Gesundheitsmanagement ist ein Grunderfordernis und eine Win-Win-Situation: Das Unternehmen benötigt leistungsfähige Mitarbeiter und die Mitarbeiter wollen dabei leistungsfähig und möglichst gesund bleiben.

Führungskräfte müssen wissen, wie wichtig z.B. die Umgangskulturbei der Arbeit und Arbeitsgestaltung ist. Mit respektvollem Umgang werden gesundheitsfördernde Settings geschaffen. Wenn Mitarbeiter sich andererseits nicht wertgeschätzt und / oder unter Druck gesetzt fühlen, erhöht dies ihr Erkrankungsrisiko.

Führungskräfte müssen von uns zu Gesundheitsrisken und – chancen,  mit wirtschaftlichen  Auswirkungen beraten werden. Sie sind die im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Gesundheitsmultiplikatoren.

Welche Entwicklung konnten Sie in den Unternehmen allgemein bisher verfolgen?

Es gab in Deutschland eine Zeit lang die Tendenz zum Auslagern betriebsärztlicher Leistungen. Viele Unternehmen haben lange Jahre geschaut, die Kosten  der betriebsärztlichen Betreuung so günstig wie möglich zu halten und dabei nachweisen zu können, dass man die gesetzlichen Anforderungen umsetzt. Das hat teilweise zu einer Art Ablasshandel und weniger zu systematischer betriebsärztlicher Beratung geführt.

Das spannende daran ist, dass eine Auslagerung betriebsärztlicher sowie sicherheitstechnischer Leistungen  – gerade in größeren Unternehmen – bis heute EU-Recht widerspricht. Es gibt dazu mehrere Urteile des EU-Gerichtshofs. Die  entsprechende EU-Richtlinie besagt: Kann das Unternehmen die Anforderungen an den Arbeits- und Gesundheitsschutz mit eigenen Ressourcen abdecken, ist eine Auslagerung der Leistung nicht zulässig.

Allerdings gibt es in den letzten Jahren einen großen Wandel in den Unternehmen. Die seit 2007 steigenden Krankenstände, pandemische Infektionsrisiken und  eine weltweit rasche  Zunahme chronischer Krankheiten, haben das Interesse an einer guten arbeitsmedizinischen Betreuung und einem systematischen betrieblichen Gesundheitsmanagement in den Unternehmen deutlich wachsen lassen. Hierzu gehört auch die politische Wahrnehmung der Unternehmen als größte gesellschaftspolitisch relevante Präventionsplattform.

Wie stehen die sog. KMU’s (Klein- und Mittelständler) Ihrer Meinung nach beim BGM im Vergleich zu den Großen dar?

Es heißt immer, in den mittelständischen Unternehmen muss mehr getan werden. Das halte ich in dieser Pauschalierung für falsch. Nicht zuletzt, weil dort viel gemacht wird. In kleineren Unternehmen  heißt es nur oft nur nicht betriebliches Gesundheitsmanagement, trotzdem sind die stattfindenden Aktivitäten häufig beeindruckend.

Was ich beim Thema Gesundheitsmanagement erlebe ist, zumindest bei intrinsisch motivierten Unternehmenslenkern, dass die Maßnahmen viel unmittelbarer und damit auch effektiver im Mittelstand und bei den kleinen Unternehmern sind, als sie es beim Großunternehmen je sein könnten.

Viele Kleinunternehmer wissen häufig nicht, wie viel Arbeit sie bereits leisten. Häufig ist das Erkennen der Handlungsbedarfe viel direkter, als in Großunternehmen. Nicht zuletzt weil gerade Kleinunternehmer  unmittelbar auf ihre Leute angewiesen und entsprechend nah an ihren Bedürfnissen dran sind.

Viele stehen in direktem Kontakt mit ihren Mitarbeiter und kümmern unmittelbar, z.B. bei Alkohol- oder  Drogenproblemen, bis hin zur finanziellen Unterstützung bei Schuldenproblematiken.

Entwicklung Arbeitsmediziner im Markt – Gibt es einen Mangel an Betriebsärzten?

In den letzten Jahren haben wir noch nie so viele Betriebsärzte gehabt wie jetzt – das Interesse an der Arbeitsmedizin war noch nie so hoch wie jetzt und die Akademien waren noch nie so ausgelastet, wie jetzt.

Sie sagen, es gibt keinen Ressourcenmangel…? Viele aktive Ärzte – ca. 50% – stehen doch kurz vor dem Ruhestand..

Anfang der 70iger Jahre mit Inkrafttreten des Arbeitssicherheitsgesetzes, gab es bereits  Medienartikel, wo genau die gleiche Frage gestellt wurde. Damals wurde von rund 300 Betriebsärzten in Deutschland gesprochen. Heute sind es rund 12.000. Es gibt kein signifikantes Ausscheiden von älteren Arbeitsmedizinern, da viele über die Regelaltersgrenze hinweg arbeiten. Außerdem sehen wir ein sehr hohes Interesse an unserem Berufsbild bei jungen Medizinern.

Die Evaluation der deutschen Arbeitsschutzlandschaft zeigt erst mal einen Mangel auf, der schon immer da war und sich insbesondere auf die Betriebe bis zu 10 Mitarbeitern in Deutschland konzentriert.

Den Mangel den hat es also schon immer gegeben – nur, hat das damals niemanden interessiert. Bisher wurde diese Vernachlässigung rechtlicher Vorgaben schlichtweg nicht sanktioniert, nicht einmal moniert. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage nach den Zuständigkeiten der im Rahmen des deutschen dualen Arbeitsschutzrechts  politisch verantwortlichen Akteure.  Denn hier findet sich eine Bündelung zum Teil konfliktärer Aufgabenfelder, wie. Z.B. Rechtssetzung, Rechtsaufsicht und  Servicefunktion / Leistungserbringung (z.B. betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung).

Heute können Unternehmer bei einer Größe mit bis zu 50 Mitarbeitern selbst Funktionen im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutz übernehmen und sich darüber hinaus von fachkundigen Stellen beraten lassen. Dieses Modell fokussiert auf rd. 40 Millionen Erwerbstätige in Deutschland.  Es ist eigentlich eine große Chance, wenn  Unternehmer bewusst Verantwortung im Themenfeld Gesundheit übernehmen. Die konsequente Umsetzung diese sog. Unternehmensmodell würde alle Diskussionen im zum vermeintlichen Ressourcenmange im Keim ersticken. Fakt ist – heute haben wir so viele Betriebsärzte wie noch nie. Und zudem ein ständig wachsendes Interesse am Fachgebiet.