Warum Sie als Mediziner*in keine Scheu vor Konflikten haben sollten
„Werksärzt*innen schieben doch ne ruhige Kugel“.
So lautet mancherorts dieses noch immer festsitzende Vorurteil. Aber wie sieht es in der Realität tatsächlich aus?
Ein Werksarzt erzählte mir neulich während eines Kandidatengesprächs von seinem Dilemma: Während einer Routineuntersuchung bei einem Mitarbeiter im Werk schrillten plötzlich alle Alarmglocken. Sämtliche Zeichen deuteten auf eine Herz-Kreislauf-Erkrankung hin. Ein Facharzt müsse unbedingt konsultiert werden.
Dem Mitarbeitenden empfahl er, per sofort auf seine Nachtschichten zu verzichten und abzuwarten, bis die eindeutige Diagnose des Kardiologen vorliegt. Worauf der besagte Mitarbeiter bestürzt reagierte, vor allem, weil er das Geld, das er durch die zusätzlichen Nachtschichten verdienen könne, bereits fest eingeplant habe. Der Werksarzt entgegnete daraufhin, dass Nachtschichten der Gesundheit enorm schaden würden, was er aus ärztlicher Sicht nicht verantworten könne. Gleichzeitig trat der Schichtleiter an ihn heran mit dem Hinweis, er wisse um die derzeitig zu dünne Personaldecke und der Kollege würde dringend benötigt, um die vorliegenden Aufträge abwickeln zu können.
Eine wirklich prekäre Situation, diese Dreiecksbeziehung unter extreme Spannung setzte. Natürlich konnte der Werksarzt beide Sichtweisen verstehen, sowohl die des Mitarbeiters als auch die des Schichtleiters. Aber der kardiologische Befund war eindeutig. „Es wäre viel zu riskant, den Mitarbeiter diesem Risiko auszusetzen. Nicht auszudenken, welche gesundheitlichen Folgen entstehen könnten“. Schließlich sei genau das sein Job, nämlich sich um die Gesundheit der Mitarbeitenden an ihrem Arbeitsplatz zu kümmern.
Unterschiedliche Interessen wollen unter einen Hut
Solche Geschichten sind mir im Laufe meiner mittlerweile 10-jährigen Tätigkeit als spezialisierter Personalberater auf die Berufsgruppe Arbeitsmedizin schon häufiger zu Ohren gekommen. Auch wenn der Eindruck entstehen kann, der Job als Werksärzt*in sei primär geprägt von Einverständnis und Harmonie, zeigt die Realität: So simple ist es leider auch wieder nicht.
Ganz im Gegenteil. Für diese Berufsgruppe ist es häufig ein enorm schwieriges Unterfangen, die unterschiedlichen Interessen aller Player im Unternehmen gleichzeitig zu bedienen. Die Gesundheit der Mitarbeitenden hat dabei immer höchste Priorität. Auch wenn dies bedeutet, Entscheidungen zu fällen, die einerseits die Gesundheit des Mitarbeitenden schützt, an anderer Stelle allerdings Unmut produziert. In dem Fall sind Konflikte und Spannungen vorprogrammiert und Arbeitsmediziner*innen müssen aufpassen, nicht als Prellbock zwischen die Fronten zu geraten. Es ist sehr wichtig, immer neutral zu bleiben. Gleichzeitig müssen die Unternehmensinteressen immer mit in die Entscheidungen einbezogen werden. Bestenfalls wird ein Kompromiss gefunden, der für alle Seiten passt.
Intakte Beziehungen bilden Grundlage für wirksame Ergebnisse
Gemeinsam mit der Personalabteilung gehört die Arbeitsmedizin zu der einzigen Abteilung, die Kontakt zu jedem Mitarbeitenden im Unternehmen pflegt. Das erfordert ein großes Maß an Fingerspitzengefühl, kommunikativer Kompetenz und Vertrauen auf allen Ebenen. Kurz zusammengefasst: Aufbau und Pflege eines gut funktionierenden Beziehungsmanagements. Denn ist die Beziehungsebene gestört, finden keine Gespräche mehr statt und es wird äußerst schwierig, den Zugang zu den Menschen wieder herzustellen.
Je mehr intakte Beziehungen ein Arbeitsmediziner*in im Unternehmen pflegt, desto eher stoßen sie auf Offenheit und Akzeptanz. Bei Mitarbeitenden, Kolleg*innen oder auch der Unternehmensleitung. Das ist immens wichtig, vor allem dann, wenn sie der Geschäftsleitung einen Veränderungsprozess empfehlen, den sie im Sinne einer gesünderen Arbeit gerne anstoßen möchten. In einem Konzern sind an solch einem Projekt oftmals viele Player beteiligt, die die getroffenen Entscheidungen mittragen müssen. Abteilungsleiter, die den Prozess in ihre Mannschaft tragen genauso wie die Mitarbeitenden, die ihn umsetzen müssen. Der Betriebsrat, der die Interessen der Mitarbeiter*innen vertritt, gehört ebenfalls dazu. Jeder dieser Akteure verfolgt möglicherweise andere Pläne und Ziele. Haben Arbeitsmediziner*innen einen guten Draht zu all diesen Kolleg*innen, erhöhen sich die Chancen auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit samt gewünschtem Resultat.
Das Gleiche gilt für Mitarbeitende, denen sie eine gesündere Lebensweise empfehlen. Mit mehr Sport, Slow Food und Aufgabe des Rauchens. Betreuen sie sie in einem offenen Vertrauensverhältnis, werden sie diesbezüglich bessere und wirksame Ergebnisse erzielen.
Vertraut sich ihnen beispielsweise ein Mitarbeitender mit einem psychologischen Problem an, darf dieses Vertrauen niemals enttäuscht werden. Sind Entscheidungen zu treffen, die mit der Geschäftsführung vorbereitet werden müssen, ist vollständige Diskretion zu wahren. Wird dem Mitarbeitenden am Ende geholfen, besteht die Chance, dass er als Multiplikator wirkt, indem er andere ermutigt, ebenfalls mit Problemen zum Arbeitsmediziner*in zu kommen.
Sickert hier aber jemals etwas durch und wird sein Problem bekannt gemacht, ist der Arbeitsmediziner*in im Unternehmen verbrannt. Dann wird sich niemand ihm je wieder anvertrauen.
Niemals auf eine Seite schlagen
Große Konzerne verfügen häufig über eigene Betriebskrankenkassen. Diese initiieren Vorsorgemaßnahmen und halten Budgets für gesundheitliche Maßnahmen vor. Dabei überlegen sie, in welche Aktionen zukünftig finanzielle Investitionen fließen sollen. Sie erwarten eine Stellungnahme der Ärzt*innen für Arbeitsmedizin darüber, welche Maßnahmen durchgeführt werden sollten, aber auch welche zu vernachlässigen wären. Denn sie spielen eine wichtige, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle bei Fragestellungen rund um die Gesundheit am Arbeitsplatz.
Hier kann es vorkommen, dass die Empfehlungen des Arztes respektive Ärztin beispielsweise der Werksleitung nicht gefallen. Je nachdem, auf welche Themen sie sich beziehen oder welche Krankheiten sie berühren. Es herrschen ganz unterschiedliche Interessenlagen. Jeder möchte naturgemäß möglichst Einfluss auf die Meinung und Entscheidungsfindung des Betriebsarztes oder der Betriebsärztin nehmen.
Manchmal versuchen Geschäftsführung, Betriebsrat oder auch Personalabteilung den guten Kontakt zum Arbeitsmediziner*in auszunutzen und ihn auf ihre Seite zu ziehen. In der großen Hoffnung, ihre eigenen Interessen damit durchsetzen zu können. Nicht immer können Ärzt*innen im ersten Moment solch eine Gemengelage objektiv durchschauen und die Positionen der einzelnen Akteur*innen differenziert bewerten. Ein wahrer Drahtseil-Akt.
Treten Arbeitsmediziner*innen dann in die Falle und schlagen sich auf eine Seite, laufen sie Gefahr, sich gehörig die Finger zu verbrennen. Damit würden sie nicht nur große Konflikte riskieren, sondern gleichzeitig auch das Vertrauen aller Parteien verlieren.
Vielmehr geht es darum, Spannungsfelder aufzuzeigen, abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Die Lösung liegt häufig im Kompromiss. Diplomatie ist angesagt. Die Kunst besteht darin, im Umgang mit allen Beteiligten kommunikatives Geschick zu beweisen und gleichzeitig klare Positionen zu beziehen. Basierend auf Respekt und Vertrauen.
In der Beurteilung von ärztlichen Diagnosen liegt die Hoheit bei den Arbeitsmediziner*innen, die sich von niemandem beeinflussen lassen dürfen. Natürlich sollten sie die Wünsche, zum Beispiel die der Werksleitung, in ihren Entscheidungen mitdenken und berücksichtigen. Manchmal sind auch Kompromisse möglich, soweit sie aus gesundheitlichen Aspekten vertretbar sind. Arbeitsmediziner*innen sind gefordert, stets verschiedene Brillen gleichzeitig aufzusetzen und das große Ganze niemals aus dem Blick zu verlieren. Es gibt Arbeitsprozesse, die gefährlich oder gesundheitsschädigend sind.
So zum Beispiel Facharbeiter an Hochöfen oder auch Gepäckträger am Flughafen, die Koffer und Taschen ins Flugzeug verstauen müssen. Eine körperlich höchst anstrengende Arbeit, die in der Regel zu starken Schmerzen im Muskel-Skelett Bereich führt. Diese Menschen brauchen Beratung und Hinweise für Erleichterungen. Sei es sportlich-therapeutische Maßnahmen oder auch Hilfestellungen bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes. Keinesfalls aber kann die Lösung darin liegen, kein Gepäck mehr anheben zu dürfen. Denn dann müssten sie sich einen neuen Job suchen.
Am Ende des Tages müssen sie jeweils abwägen, welche Empfehlungen aus gesundheitlichen Aspekten vertretbar sind und allen gerecht werden.
Als Gesundheitsberater liegt ihr Fokus darauf, dass Mitarbeiter*innen gesund arbeiten und dabei gesund bleiben
Arbeitsmediziner*innen übernehmen im Unternehmen eine beratende Funktion. Sie sprechen Themen zur gesunden Arbeitsplatzgestaltung an, zeigen Mängel auf und die daraus resultierenden Folgen. Sie stoßen Prozesse an, die das Bewusstsein im Unternehmen für diese Themen schärfen. Sie können lediglich Empfehlungen aussprechen. Ob denen Folge geleistet wird, wird an anderer Stelle entschieden.
In dieser Funktion nehmen Arbeitsmediziner*innen unterschiedliche Rollen ein. Je nachdem mit welchen Mitarbeitenden, welchem Bereich oder Thema sie sich umgeben und welche Problemstellung sich daraus abzeichnet. Laut “Leitbild Arbeitsmedizin”, welches der VDBW zu Kompetenzen und Anforderungen zum Berufsbild entwickelt hat, ergeben sich neben der Rolle als Präventiv-Ärzt*in unter anderem weitere: Coach, Change-Manager, Therapeut, Moderator, Psychologe, Visionär, systemischer Berater, Projektleiter, Controller oder auch Projektmitarbeiter.
Sie übernehmen zum Beispiel die Moderatoren-Rolle, wenn sie ihre Empfehlung auf anderer Ebene mit den Führungskräften diskutieren möchten. Damit sollen alle Perspektiven auf das Thema gespiegelt und berücksichtigt werden. Als Change Manager hingegen stoßen sie Projekte zur gesünderen Arbeitsplatzgestaltung an und als Coaches arbeiten sie mit Führungskräften daran, zum Beispiel Mobbing-Themen im Team aufzulösen.
In einigen Unternehmen herrscht die Weisung, als Arbeitsmediziner*in lediglich die gesetzlichen Vorgaben umzusetzen, die durch das AsiG geregelt sind. In dem Fall stünden ausschließlich Vorsorgethemen, Impfungen oder Einstellungs- und Eignungsuntersuchungen auf dem To-do Plan. In der Regel ist solch ein Vorgehen allerdings nicht praktikabel. Die Realität sieht anders aus. Zum Beispiel kommt ein Mitarbeiter zum Betriebsarzt, weil es ihm nicht gut geht. Er vertraut sich ihm mit seinem Problem an und erwartet eine adäquate Reaktion auf seine Belange. Damit wird er hier vor die Wahl gestellt: Er begnügt sich lediglich damit, dem Mitarbeiter zu empfehlen, seinen Hausarzt oder alternativ auch einen Psychologen aufzusuchen und das Thema damit abzuschließen. Er kann aber auch so reagieren, indem er das Thema aufgreift und in die Unternehmensführung trägt. Häufen sich Probleme psychischer Belastungen, bietet sich hier die Chance, Empfehlungen und Vorschläge einer ‘Gefährdungsbeurteilung Psyche’ durchzuführen. In den meisten Fällen ist die Geschäftsleitung dankbar über solche Hinweise und bittet darum, dem Thema nachzugehen und dafür einen Prozess aufzusetzen.
In seltenen Fällen reagiert die Unternehmensleitung mit Ablehnung. Dann müssen sich Arbeitsmediziner*innen die Frage stellen, ob sie im richtigen Unternehmen sind. Entweder ihr Ehrgeiz wird geweckt und sie versuchen mittelfristig ein Umdenken im Unternehmen zu bewirken oder aber sie suchen sich etwas anderes.
Aus unserer Erfahrung heraus wächst jedoch die Zahl derer, die sich dem Thema „Gesundheit bei der Arbeit“ immer aufgeschlossener zeigen.
Auf Augenhöhe mit jedermann
Als Personalberater spreche ich immer wieder mal mit Ärzt*innen, die nur in einem Unternehmen arbeiten möchten, in dem die Offenheit für Gesundheitsthemen bereits existiert. Unternehmen, in denen Budgets vorgehalten werden und Gesundheitsthemen vorangetrieben werden.
Aber man darf nicht vergessen: jedes Unternehmen fängt irgendwann einmal an. Unternehmen werden diese notwendigen Entwicklungen zulassen, wenn sie von deren Nutzen überzeugt werden. Ärzt*innen haben hier die große Chance und auch Aufgabe, diese Entwicklungen in Gang zu setzen und zu kultivieren. Dafür müssen sie in der Lage sein, sowohl mit der Geschäftsführung als auch den “normalen” Mitarbeiter*innen auf Augenhöhe sprechen zu können. Womit sich der Kreis schließt und wir wieder beim Beziehungsmanagement angekommen sind.
Wenn Arbeitsmediziner*innen das Beziehungsmanagement beherzigen und in ihrer täglichen Arbeit berücksichtigen, dann bauen sie Brücken. Dann stimmt die Beziehungsebene, die in einer wohlwollenden und gemeinschaftlichen Art gepflegt wird. Mitarbeiter*innen gewinnen Vertrauen in die Arbeitsmediziner*innen und fühlen sich nicht übervorteilt.
Übrigens, der anfangs erwähnte Werksarzt fand einen Weg, die Stimmung im Team wieder deutlich zu verbessern. Durch kommunikatives Geschick konnte er bei allen Beteiligten Verständnis für die Situation schaffen.
Sollten Sie das Gefühl haben, in Ihrem aktuellen Unternehmen nicht richtig aufgehoben zu sein, dann sprechen Sie mich gern an. Gemeinsam finden wir heraus, welches Unternehmen Ihren Wünschen und Anforderungen entspricht und am besten zu Ihnen passt. Wir kennen viele interessante Unternehmen, die engagierte Arbeitsmediziner*innen suchen.