Aus der Praxis: Dr. Kai Haas, Head of Occupational Health & Wellbeing bei Salzgitter

Wie ein (Tief-) Flugerlebnis die Weichen für die arbeitsmedizinische Zukunft stellte

In unserer Serie Experten-Talk stellen wir heute Dr. Kai Haas vor. Er ist 57 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Mit Wurzeln in Wuppertal begann er seinen akademischen Weg mit einem Medizinstudium in Düsseldorf. Parallel absolvierte er die Ausbildung zum Notarzt. Die Akutmedizin faszinierte ihn seit Beginn seiner Karriere. Ursprünglich zog es ihn in die Kardiologie und die Vorstellung, in die Arbeitsmedizin zu wechseln, hätte er damals wohl eher belächelt.

Dr. Haas, was war der entscheidende Auslöser für Sie, das Fachgebiet Arbeitsmedizin zu wählen?

Kurz vor meinem 28. Geburtstag verpflichtete ich mich als Zeitsoldat bei der Bundeswehr, da ich dort die Chance bekam, zur Luftwaffe zu wechseln. Ursprünglich war geplant, der Truppe zunächst als normaler Truppenarzt, sprich als Allgemeinmediziner zu dienen – hier gab es damals einen großen Bedarf. Der Weg sollte weiterführen über eine Ausbildung in Flugmedizin, um anschließend später dann ins Bundeswehrkrankenhaus zu wechseln.

Währenddessen prägte mich ein besonderes Erlebnis in Kanada. Damals habe ich Soldaten bei der Tiefflugausbildung als Fliegerarzt medizinisch betreut. Dabei ergab sich die tolle Gelegenheit, als Backseater mitzufliegen. Ich konnte am eigenen Leib erfahren, wie sich die Piloten in ihrem Job fühlen. Ich bin nassgeschwitzt und ohne großen Appetit aus dem Flugzeug gestiegen. Die Belastung war enorm. Auch wenn es in diesem Fall nur ein „normaler Tiefflug“ war und Piloten im Einsatz noch höheren Belastungen ausgesetzt sind.
Hinzu kommt, dass wir im Krankenhaus bei Patienten mit akutem Herzinfarkt sogenannte „Ballonaufdehnungen“ durchführten. Technisch gesehen geht das recht schnell. Obwohl es ein recht brachialer Akt ist, fühlt sich das für Patienten so nicht an. Folglich sahen sie oft keinen akuten Grund, ihre Gewohnheiten verändern zu müssen. Damals wurde mir klar: Ok, meine Arbeit ist spannend, aber eigentlich müsste man viel früher ansetzen. Damit es erst gar nicht so weit kommt. Diese Erfahrung öffnete mir die Augen für die Vielfalt der Medizin und insbesondere für die Präventionsmöglichkeiten, die die Arbeitsmedizin bietet. Die Entscheidung für die Arbeitsmedizin war gefallen.

Wie ging es dann weiter?

Bei der Bundeswehr konnte ich diesen neuen Weg nicht einschlagen, weil die Arbeitsmedizin zu dem Zeitpunkt outgesourct war. Das hat sich mittlerweile geändert. Also habe ich einen Entlassungsantrag gestellt, um in die Arbeitsmedizin zu wechseln. Meinen Facharzt für Arbeitsmedizin habe ich in Ottobrunn bei Daimler-Chrysler Aerospace absolviert – damals ein großer Standort mit 10.000 Mitarbeitern. Das Spektrum war sehr breit – wir hatten dort am Standort alle arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen, die man sich vorstellen kann: Es gab eine Galvanik, große Klimakammern (Hitze und Kälte), in denen Untersuchungen gemacht wurden, alle möglichen Gefahrstoffe, mit denen gearbeitet wurde.

Anschließend wechselte ich zur neu gegründeten E.ON Hanse und baute dort den Gesundheitsschutz auf. Parallel zur Facharzt-Ausbildung in München studierte ich noch strategisches Marketing. Ich hatte das Gefühl, als Arzt nicht genug über BWL-Wissen zu verfügen. Den Einblick ins strategische Marketing war sehr, sehr spannend und hilft mir bis heute – auch in der Arbeitsmedizin. Die Arbeitsbedingungen durch die Brille der Mitarbeitenden zu betrachten, hilft, gute Maßnahmen zu entwickeln. Das steigert nicht nur die Produktivität der Mitarbeitenden, sondern zusätzlich auch die Attraktivität als Arbeitgeber. Mit E.ON Hanse haben wir dann recht erfolgreich mit „Zeit für Gesundheit“ am  Corporate Health Award teilgenommen. Den wir übrigens in 2023 mit der Salzgitter AG mit dem 1, Platz in unserer Kategorie gewonnen haben.

Zwischen E.ON und der Salzgitter AG habe ich einige Jahre in der Öl- und Gasindustrie verbracht. Dort war es erforderlich, regelmäßig in verschiedene Länder zu reisen. Nach der Geburt meiner Tochter entschied ich mich für ein Angebot von Novartis aus der Schweiz. Als diese schulpflichtig wurde, kehrten wir zurück nach Deutschland und ich zu Airbus nach Hamburg. Dort koordinierte ich das Thema Gesundheitsschutz für den Bereich zivile Flugzeuge.

Mittlerweile bin ich bei der Salzgitter AG, einem sehr spannenden Unternehmen. International tätig, mitten in der Transformation zum „grünen“ Stahl und gleichzeitig stark mit seinen Wurzeln verbunden. Die Entwicklung hin zum grünen Stahl mitzubegleiten, ist hochinteressant. Wir haben hier ein Team von 12 Ärzten und Ärztinnen und sind als Abteilung direkt in das Unternehmen eingeflochten.

Mit welchen Aufgaben, Fragestellungen und Herausforderungen beschäftigen Sie sich in Ihrer Funktion als Vo bei Salzgitter? 

Bei der Salzgitter Flachstahl GmbH, die ein integriertes Hüttenwerk betreibt, fokussiere ich mich darauf, die Arbeitsbedingungen unserer Mitarbeiter zu verstehen. Vor einigen Monaten habe ich selbst eine Schicht am Hochofen mitgearbeitet, um die physischen Anforderungen und Umgebungen persönlich zu erfahren. Solche Erfahrungen sind wichtig, um ein realistisches Bild von den Arbeitsbedingungen zu erhalten. Das stärkt zusätzlich die Akzeptanz und das Vertrauen der Belegschaft in unsere Arbeit. Diese Praxis der direkten Einblicke in die Arbeitswelt unserer Kollegen wird von allen Ärzten in meinem Team verfolgt. So fördern wir den Dialog und entwickeln ein besseres Verständnis für die Herausforderungen vor Ort.

Gesundheitsangebote in Zeiten des demografischen Wandels

In Zeiten des demografischen Wandels und Fachkräftemangels sind umfassende Gesundheitsangebote unumgänglich, um als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen zu werden. Der Arbeitsmarkt hat sich zu einem Arbeitnehmermarkt entwickelt. Das bedeutet, dass wir innovative Gesundheitsprogramme bereitstellen müssen, um qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten.

Prävention und psychische Gesundheit

Seit den 1990er-Jahren wissen wir, welche Faktoren zu einem Burn-out führen können. Umso wichtiger ist es, die positiven Aspekte zu fördern, die präventives Arbeiten unterstützen. Arbeit kann sogar als Ausgleich zu privaten Belastungen dienen, wenn das Arbeitsumfeld unterstützend und angenehm ist. Ich habe oft erlebt, dass sich privat stark belastete Beschäftigte in einer positiven Arbeitsumgebung aufgefangen fühlen. Einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen und gerne arbeiten. Diese Balance zwischen Arbeit und persönlichem Wohlbefinden ist entscheidend für die langfristige Gesundheit und Zufriedenheit der Mitarbeitenden.

In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren habe ich beobachtet, dass das Bewusstsein für psychische Gesundheit in den Unternehmen stark zugenommen hat. Besonders in den angloamerikanischen Ländern war dieser Trend früh zu erkennen. Ich selbst hatte die Gelegenheit, Teil eines Netzwerks in England zu sein, das sich jährlich trifft, um über psychische Gesundheit zu diskutieren. Dort lernte ich George McDonald kennen, den ehemaligen globalen HR-Direktor von Unilever. George hat eigene Erfahrung mit einer Angststörung gemacht, die ihn dazu brachte, seinen Job an den Nagel zu hängen und sich weltweit gegen die Stigmatisierung von mental health einzusetzen . Es ist bemerkenswert, dass selbst in Ländern, in denen Prominente offen über ihre psychischen Probleme sprechen, in der Wirtschaft noch Zurückhaltung herrscht. George fragte sich einmal: „Wo ist der CEO, der offen sagt, dass er ein psychisches Problem hatte?“ Diese Frage zeigt, dass immer noch ein gewisses Zögern besteht, sich verletzlich zu zeigen. Seit etwa 2010 gibt es in England das Mad World Forum. Hier handelt es sich um eine Veranstaltung, die sich ausschließlich mit psychischer Gesundheit befasst und jährlich stattfindet. Ich hatte die Ehre, dort zweimal als Redner aufzutreten. Diese Themen haben mittlerweile auch bei uns an Bedeutung gewonnen und sind in der Unternehmenswelt angekommen.

Führungskräfte schulen

Wir haben Schulungsprogramme für Führungskräfte etabliert, um den Umgang mit psychisch belasteten Mitarbeitern zu verbessern. Ziel dieser Schulungen ist es, Führungskräfte zu befähigen, sensibel mit diesen Themen umzugehen und die richtigen Unterstützungsangebote zu kennen. Oberflächliche Maßnahmen wie Obstkörbe oder Fitnessangebote bereitzustellen reichen nicht aus, wenn zudem die zugrunde liegende Unternehmenskultur toxisch ist. Eine unterstützende Unternehmenskultur hingegen trägt dazu bei, das Wohlbefinden der Mitarbeitenden zu fördern und Fehlzeiten zu reduzieren.

Der mentale Wegweiser

Seit Sommer 2022 bieten wir einen „mentalen Wegweiser“ an, bei dem eine externe Psychotherapeutin einmal wöchentlich anonyme Beratungen anbietet. Dieses Angebot ist sehr gefragt und zeigt, wie wichtig es ist, psychologischer Fachkompetenz in die Arbeitsmedizin zu integrieren.

Dekarbonisierung, Demografie und Digitalisierung

In meiner Funktion beschäftige ich mich auch intensiv mit den Themen Dekarbonisierung, Demografie und Digitalisierung. Wir haben intern 2023 beim internen Change Award in der Kategorie „Machbarkeit“ mit der Idee gewonnen,  die Nutzung der Suchmaschine Ecosia zu etablieren, die Bäume für Suchanfragen pflanzt. Der demografische Wandel erfordert kontinuierliche Ergonomiestudien, um die Arbeitsbedingungen für unsere älter werdende Belegschaft zu verbessern. Schließlich streben wir an, unsere Prozesse durch Digitalisierung effizienter zu gestalten, indem wir papierlose Systeme einführen.

Diese vielfältigen Herausforderungen zeigen, wie dynamisch und zukunftsorientiert die Arbeitsmedizin ist. Als Arbeitsmediziner sehe ich es als meine Aufgabe, diese Entwicklungen aktiv mitzugestalten und innovative Lösungen voranzutreiben.

Wie sehen Sie den heutigen Stellenwert des Themas „Gesundheit bei der Arbeit durch Prävention“ im gesellschaftspolitischen Kontext? Wie stark hat sich die Bedeutung aufgrund von Corona, New Work, Fachkräftemangel etc. Ihrer Meinung nach verändert? 

Sehr stark. Die Corona-Pandemie hat den Stellenwert der Arbeitsmedizin signifikant erhöht. Sie hat verdeutlicht, dass Gesundheit ein entscheidender Faktor ist, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Wir mussten flexibel auf ständig wechselnde Empfehlungen reagieren und präventive Maßnahmen entwickeln, die nachhaltig sind. Diese Zeit hat die Arbeitsmedizin ins Rampenlicht gerückt und ihre Bedeutung als wesentlicher Bestandteil eines funktionierenden Unternehmens unterstrichen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der ganzheitliche Präventionsansatz, den der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) propagiert. Anstatt nur auf spezifische Gesundheitsaspekte wie das Gehör bei Lärmuntersuchungen zu achten, sollten wir Arbeitsmediziner den Menschen als Ganzes betrachten und uns umfassend mit Gesundheitsförderung und -management auseinandersetzen.

Ich sehe die Notwendigkeit, dass wir Arbeitsmediziner in diesem Bereich weiterbilden. Damit können wir Teams effektiv beraten, beispielsweise bei der Analyse von Fehlzeiten oder der Implementierung von Gesundheitsförderungsmaßnahmen. Es ist wichtig, dass die Arbeitsmedizin über die reine Vorsorge hinausgeht und als Ansprechpartner für eine breite Palette von Gesundheitsfragen dient. Die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, insbesondere im Bereich der Psychologie, ist ebenfalls ein wichtiger Punkt. Wir müssen als Arbeitsmediziner bereit sein, unsere Kompetenzen zu erweitern und interdisziplinär zu arbeiten.

Meine Erfahrungen bei Airbus haben gezeigt, wie wichtig die Integration der Arbeitsmedizin in die Unternehmensstruktur ist. Am Standort Stade nahm ich regelmäßig an Besprechungen mit dem Standortleiter und den Produktionsbereichen teil. Diese Integration ermöglicht es, nicht nur über arbeitsmedizinische Themen zu sprechen, sondern auch zu anderen betrieblichen Angelegenheiten beizutragen. Diese proaktive Einbindung hat enorm geholfen, zur Gesundheit der Mitarbeiter beizutragen.

Auch wenn diese Integration in großen Unternehmen leichter zu realisieren ist, gibt es für kleinere und mittelständische Unternehmen ebenfalls Möglichkeiten. Externe Betriebsärzte haben oft weniger Zeit zur Verfügung, aber die Arbeit in verschiedenen Branchen bietet eine bereichernde Vielfalt an Erfahrungen. Letztendlich sollte die Arbeitsmedizin, ähnlich wie das Marketing in alle Bereiche eines Unternehmens integriert sein, um zur Gesundheitsförderung beizutragen.

Wie schätzen Sie das Berufsbild heute und in der Zukunft ein? Was läuft schon gut? Woran sollte Ihrer Meinung nach noch gearbeitet werden?

In meiner beruflichen Laufbahn habe ich festgestellt, dass die Arbeitsmedizin eine einzigartige Gelegenheit bietet, Prävention in den Vordergrund zu stellen. Anders als in der Akutmedizin, wo ich mich früher um die Therapie von Krankheiten kümmerte, erlaubt mir die Arbeitsmedizin, Maßnahmen zu ergreifen, bevor Krankheiten entstehen. Diese präventive Ausrichtung empfinde ich als äußerst sinnvoll und erfüllend.

Während meines Studiums habe ich eine Akupunkturausbildung gemacht, die sich in meiner damaligen Klinik leider nicht umsetzen ließ. Doch die Idee, Gesundheitsvorsorge als primäres Ziel zu verfolgen, hat mich nie losgelassen. Die Arbeitsmedizin ermöglicht es mir, Themen wie gesunde Ernährung und Nichtrauchen zu propagieren und direkt am Arbeitsplatz anzusetzen. Hier erwähne ich gern das Beispiel aus dem alten China. Dort wurden die Ärzte nur bezahlt, solange die Patienten gesund waren. Wurden sie krank, haben die Ärzte nichts bekommen, sondern erst wieder, wenn die Patienten wieder gesund waren. Das halte ich für einen sehr spannenden gesundheitspolitischen Ansatz.

Einschätzung des Berufsbilds der Arbeitsmedizin

Natürlich gibt es Unterschiede zur klassischen Medizin. Wer darüber nachdenkt, aus der Klinik in die Arbeitsmedizin wechseln zu wollen, sollte dies bedenken. In der Arbeitsmedizin habe ich nicht die gleiche diagnostische Tiefe wie ein Hausarzt, dafür aber eine bessere Balance zwischen Berufs- und Privatleben. Dienste an Wochenenden oder nachts sind selten, was besonders für Ärztinnen und Ärzte attraktiv ist, die Familie und Beruf vereinbaren möchten.

Es gibt einige Ärztinnen und Ärzte aus Krankenhäusern, die sich für eine Weiterbildung zum Arbeitsmediziner entschieden haben. Das funktioniert sehr gut. An unserem Standort in Salzgitter mit ca. 8.000 Mitarbeitern bieten wir sogar einen Notarztdienst an, was zusätzliche Abwechslung in den Arbeitsalltag bringt.

Was gut läuft und woran gearbeitet werden sollte

In der Arbeitsmedizin läuft bereits vieles gut, insbesondere die vielfältigen Einblicke in unterschiedliche Arbeitsbereiche, die ich als äußerst bereichernd empfinde. Von der Arbeit am Hochofen bis hin zu Tätigkeiten im Forschungslabor – die Breite der Erfahrungen ist einzigartig. Dennoch gibt es immer Raum für Verbesserungen, insbesondere in der Integration von psychologischer Beratung und in der Weiterentwicklung von Gesundheitsförderungsprogrammen.

Empfehlungen für Interessierte

Für Mediziner, die einen Wechsel in die Arbeitsmedizin erwägen, empfehle ich wärmstens zu hospitieren. Diese praktischen Einblicke sind unschätzbar wertvoll und helfen, die vielfältigen Aspekte dieses Fachs kennenzulernen. Viele meiner Kollegen, die diese Möglichkeit genutzt haben, sind begeistert und sehen die Arbeitsmedizin als eine spannende und lohnende Karriereoption. Es ist ein Fach, das die Gelegenheit bietet, präventiv zu arbeiten und in vielen Lebens- und Arbeitsbereichen positiv zu wirken.