Fachkräftemangel in der Arbeitsmedizin wächst: Wo die Chancen liegen

Ansichten eines Berufsgruppen-Spezialisten

Schon seit geraumer Zeit wird es schwieriger, vakante Stellen mit Arbeits- und Betriebsmediziner*innen zu besetzen.

Offene Facharzt-Stellen bleiben immer länger unbesetzt. Unternehmen wenden sich mit Bitte um Unterstützung vermehrt an uns, da ihre unternehmensinterne Suche erfolglos bleibt. Für uns als berufsgruppenspezialisierte Personalberatung ist das ein klares Indiz dafür, dass wir uns mitten in einem Fachkräftemangel Arbeitsmedizin befinden.

Im Rahmen unseres Suchprozesses beobachten wir, dass die Anzahl wechselbereiter Kandidat*innen erheblich abnimmt. Falls überhaupt, zeigen Ärzte und Ärztinnen ausschließlich Interesse an Top-Stellen. Darüber hinaus hat sich die Dauer zur Besetzung offener Stellen spürbar verlängert, vor allem bei schwierigen Vakanzen mit unattraktiven Rahmenbedingungen.

Es war auch früher nicht einfach, einen passenden Arzt oder Ärztin zu finden. Zumindest gab es damals Wechsel-willige. Wir schätzen, dass sich in den letzten 10 Jahren zwischen 300 und 400 Fachärzt*innen in den Ruhestand verabschiedet haben. Dieser Trend wird sich fortsetzen, da die geburtenstarken Jahrgänge peu à peu nachrücken und ins Rentenalter kommen.

Bedarf an Prävention auf Unternehmerseite seit Corona-Pandemie massiv gestiegen

Auf der anderen Seite ist das Thema Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit spätestens seit der Corona-Pandemie auch in den Mittleren und Kleinunternehmen „angekommen“. Die Pandemie hat einen signifikanten Beitrag geleistet, das Bewusstsein für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zu stärken. Die per Gesetz vorgeschriebene Grundbetreuung wird nach Jahren ihrer Existenz nun auch hier abgefordert. Fast explosionsartig ist die Nachfrage in diesem Segment gestiegenen und beweist somit, dass der Markt und damit auch der Bedarf wächst.

Das Dilemma: Dem wachsenden Bedarf steht ein sinkendes Angebot gegenüber.

Die einfachste und schnellste Lösung könnte darin bestehen, dass Unternehmen die Gehälter deutlich nach oben justieren. Solch eine Maßnahme wird die individuelle Situation des jeweiligen Unternehmens kurzfristig retten. Der Mangel wird dadurch allerdings nicht beseitigt, sondern durch diese Verteilungskämpfe lediglich verschoben. Insgesamt gesehen verbleiben zu wenig Arbeitsmediziner*innen für die zu betreuenden Mitarbeitenden.

Wo liegen die Chancen versteckt, das Angebot zu verbessern?

Es wird viel gegen den Fachkräftemangel getan. Abgesehen davon, dass die Verbände aktiv die Werbetrommel für das Berufsbild rühren, gibt es weitere Initiativen, die an anderer Stellschraube drehen. Sie versuchen, Ärzte und Ärztinnen stärker zu entlasten. An der TAE (Technische Akademie Esslingen) wird beispielsweise das Weiterbildungsprogramm „Arbeitsmedizinische Assistenz“ angeboten. Hier werden laut dem VDBW einige Hundert Assistenten pro Jahr ausgebildet, die den Mediziner*innen als Assistenzen zuarbeiten und ihnen administrative Aufgaben abnehmen. Sicherlich wird es das Problem des Fachkräftemangels in diesem Bereich nicht lösen, vermutlich aber zumindest etwas abfedern.

Ein erfreulicher Effekt, der zusätzlich hoffen lässt, ist die positive Image-Entwicklung des Berufsbilds Arbeitsmedizin. Es hat deutlich an Attraktivität hinzugewonnen. Im Wesentlichen trägt die gute Vereinbarkeit von Familie und Karriere dazu bei. Sie ist für Ärztinnen und Ärzte aus anderen Fachgebieten ein sehr großes Thema. Gerade in den überforderten und überarbeiteten Ärzten und Ärztinnen aus den Kliniken liegt eine große Chance. Raus aus der Klinik wollen sie eine Tätigkeit mit einer fairen Work-Life-Balance ausüben. Das Umsatteln in die Arbeitsmedizin bietet eine gute Möglichkeit, die gerne genutzt wird.

Steigende Nachwuchszahlen lassen hoffen, reichen aber nicht!

Die Eintrittshürden für Weiterbildungsassistent*innen Arbeitsmedizin wurden heruntergesetzt. Hinzukommt, dass Kurse online stattfinden und somit viel besser mit den praktischen Anforderungen zusammenpassen. Der Aufwand, der bei den Besuchen von Präsenzkursen mit Fahrt- und Übernachtungskosten ist viel höher und kann schneller abschrecken. Ärzte und Ärztinnen können einfach mal ins Thema reinschnuppern und schauen, ob ihnen das Thema gefällt. Dennoch gibt es einen gewissen Prozentsatz, der nach dem erworbenen Facharzt nicht in die operative Arbeitsmedizin geht. Sei es in die Unternehmen oder auch zum Dienstleister.

Auch wenn die Zahlen der Weiterbildungsassistenten in den letzten Jahren zugelegt haben, entwickelt sich der Markt weiterhin schwierig. Die steigenden Nachwuchszahlen können die Abgänge in den Ruhestand nicht vollständig abfangen.

Welche Lösungsansätze wären denkbar?

Hier gibt es meines Erachtens nur das Zusammenspiel zweier Wege:

  • Es wird weiterhin massiv ausgebildet
  • Aufgaben der Arbeitsmedizin werden neu aufgeteilt

Schon länger wird darüber debattiert, Assistenzkräfte mit mehr Kompetenzen auszustatten. Das wäre ein Hebel, der wirklich funktionieren könnte. Ärzte und Ärztinnen konzentrieren sich auf die wesentlichen Dinge, sprich auf die ärztliche Beratungsleistung. Leistungen der Untersuchungsmedizin wie Blut abnehmen, Impfungen verabreichen oder auch administrative Aufgaben sind delegierbar. Bei den Themen Burn-out und psychische Überlastungen könnten Psychologen verstärkt eingebunden werden. Es wäre sicherlich eine wertvolle Unterstützung für Arbeitsmediziner*innen, wenn Psycholog*innen die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung übernehmen.

Österreich nimmt mit sehr konkreten Möglichkeiten die Vorreiterrolle ein. Assistent*innen übernehmen einen großen Teil administrativer Aufgaben. Das entlastet die Fachärzt*innen enorm und verschafft ihnen großzügige Freiräume. Dazu gehören unter anderem Terminabsprachen, Abrechnungen oder auch die Daten- und Systempflege.

Auch Holland ist in meinen Augen hier sehr fortschrittlich: Hier werden spezielle Ausbildungen für medizinische Assistenzen angeboten. Diese Personen dürfen danach partiell ärztliche Aufgaben übernehmen. Zum Beispiel gehören dazu ein Gutachten erstellen, eine Spritze verabreichen oder auch Patienten für eine Therapie einzustellen.

Vielleicht sollten wir in Deutschland an dieser Stelle einen Blick auf unsere Nachbarn wagen und überlegen, ob diese Lösungsansätze auch bei uns praktikabel sind.

Fazit:

Die Aussichten sind zwar nicht düster, aber auch nicht einfach. Die aktuellen Ausbildungszahlen der Weiterbildungsassistent*innen Arbeitsmedizin geben einen Lichtblick. Leider ist nicht bekannt, wie viel Nachwuchs nach dieser Ausbildung auch tatsächlich in dem Beruf arbeitet.

Meines Erachtens ist der Weg, die Präventionsarbeit auf mehrere Schultern zu verteilen, der vielversprechendste. So können alle Disziplinen vernünftige Leistungen anbieten, was wiederum die Ärzte und Ärztinnen entlastet.