Arbeitsmedizin weckte schon im Studium seine Aufmerksamkeit
Für unserer Serie „Praxisbericht von Experten für Experten“ haben wir uns mit Dr. Joachim Kulemann getroffen.
Der Vater von drei erwachsenen Kindern ist ein Mit-50er, verheiratet und praktiziert seit 2005 als Arbeitsmediziner und Internist im beschaulichen Bergedorf, südöstlich von Hamburg.
Im Oktober 2022 verkaufte er seine arbeitsmedizinische Praxis, die er 2005 gründete und erfolgreich aufbaute. Heute führt er die Praxis als Tochterunternehmen einer bundesweit agierenden Holding in der Position eines angestellten Geschäftsführers weiter.
In seiner raren Freizeit vergnügt sich Dr. Kulemann gern an der Ostsee, wandert an frischer Luft und hält sich fit mit der japanischen Kampfkunst „Ju-Jutsu“.
Dr. Kulemann, welchen Karriereweg haben Sie für sich gewählt?
Nach dem Studium der Humanmedizin habe ich als Internist einige Jahre an der Klinik, speziell in der Lungenheilkunde verbracht. Da ich mich immer schon besonderes für die Arbeitsmedizin interessierte, habe ich mich entschlossen, neben dem Facharzt für Innere Medizin als zweiten Facharzttitel die Arbeitsmedizin hinzuzunehmen. Später machte ich dann noch den dritten Facharzt „Allgemeinmedizin“. Vor meinem Studium war ich als gelernter Rettungsassistent tätig und bin später auch aktiv als Notarzt für die Feuerwehr gefahren.
Nach der Klinik-Zeit entschied ich mich dazu, meine eigene Praxis zu gründen. Dafür übernahm ich damals als Internist und Arbeitsmediziner leere Räume, lediglich mit einem kleinen Rest Einrichtung. Damit bin ich gestartet. Selbstständig war ich in der Arbeitsmedizin bis einschließlich Oktober 2022. Heute gehören wir als GmbH-Tochter einer Holding an. Alle Beteiligungen aus der Gruppe bleiben eigenständig, sodass ich heute statt als selbstständiger Geschäftsführer nun angestellter Geschäftsführer bin. Im Grunde genommen bestehen meine Aufgaben aus den gleichen wie vor dem Verkauf.
Was war der entscheidende Auslöser für Sie, das Fachgebiet Arbeitsmedizin zu wählen?
Gedanklich hat mich die Arbeitsmedizin schon im Studium begleitet. Mir gefielen die Vorlesungen, in denen damals noch per Diashow von unterschiedlichen Arbeitsplätzen berichtet wurde. Ich empfand es als große Bereicherung, nicht nur auf das Kerngebiet Medizin zu schauen, sondern im Sendung-mit-der-Maus-Style Zusammenhänge zwischen Prozessen und Menschen zu erkennen. Und sich ganz unabhängig vom medizinischen Aspekt, die Gesundheit der Menschen bei der Arbeit anzusehen. Wie es um sie steht und wie sie sich entwickelt.
Diese Fragestellung hat mich sehr interessiert und so sprach ich den Vortragenden nach der Vorlesung an. Das war damals der Ordinarius Professor Szadkowski in Hamburg, bei dem ich später auch promoviert habe. Im Grunde genommen promovierte ich in der Arbeitsmedizin, noch bevor ich praktisch tätig wurde. Die Weiterbildungskurse absolvierte ich aus der Klinik heraus und nicht wie üblich während meiner arbeitsmedizinischen Weiterbildung. Auch die Lungenheilkunde hat viele Schnittstellen mit der Arbeitsmedizin. In der Klinik gab es eine eigene Arbeits- und Umwelt-medizinische Ambulanz. So hatte ich über die ganze Zeit hinweg Berührungspunkte mit der Arbeitsmedizin.
Wie kamen Sie dazu, sich mit einer eigenen Praxis selbstständig zu machen? Was war hier der Auslöser?
Ich fand es persönlich immer schwierig, in Strukturen zu arbeiten, in denen ich nichts bewegen kann. Von Natur aus bin ich ein eher kreativer Mensch. Mit liegt es nicht besonders Themen einfach nur abzuarbeiten, sondern möchte Dinge gestalten. Dafür eignet sich die Selbstständigkeit oder zumindest eine Position wie jetzt als Geschäftsführer natürlich hervorragend. Wenn ich eine gute Idee habe, kann ich sie umsetzen und sie bleibt nicht im „Gute-Ideen-Status“. Reaktionen wie „Hier war es immer schon so“, ist eine Antwort, die man in großen Einrichtungen häufig hört. Daraus entwickelte sich bei mir immer der Impuls zu sagen: „Dann lass uns doch mal überlegen, wie wir das jetzt anders organisieren“. Da bin ich schnell an Grenzen gestoßen, was mich auf Dauer ein bisschen frustriert hat. Vor allem, wenn ich einzig aufgrund einer schlechten Organisation Überstunden machen muss.
Mich hat immer die Frage beschäftigt, welchem Fachgebiet ich mich in Zukunft zuwenden möchte. Ist es die Arbeitsmedizin oder entscheide ich mich für die Klinik, um mich dort der Inneren Medizin zu widmen? Die Selbstständigkeit gab mir die Chance, beides zu tun. Niedergelassen habe ich mich 2005 mit meiner Praxis für Innere Medizin und Arbeitsmedizin. Während der vergangenen 18 Jahre beschäftigten mich tatsächlich beide Fachbereiche, allerdings mit unterschiedlicher Ausprägung.
Wie entwickelte sich die Praxis? Warum haben Sie verkauft?
Zu Beginn wurde sowohl die Innere Medizin als auch Arbeitsmedizin gleichermaßen gut nachgefragt. Als sich abzeichnete, dass die Hausarztpraxis mehr Personal benötigte, konnten wir in der kurativen Praxis Weiterbildungsassistenten und Fachärztinnen zur Verstärkung einstellen.
Parallel dazu ist die Arbeitsmedizin weitergewachsen. Auch hier stellten wir weitere Kollegen und Kolleginnen ein. 2015 kam ein zweiter Partner, der Kollege Dr. Constantin Reinke an Bord. Über die letzten 7 Jahre konnten wir ein starkes Wachstum mit der Praxis verzeichnen. Zuletzt erreichten wir hier eine Größenordnung, die eine strategische Entscheidung erforderte. Unsere bis dato gut funktionierende Struktur reichte nicht mehr aus.
Somit machten wir uns aktiv auf die Suche nach möglichen Partnern. Uns war wichtig, unseren Betrieb selbständig weiterführen zu können und keinesfalls in einer Konzernstruktur zu versinken, in der wir externe Vorgaben hätten umsetzen müssen. Wir wollten unseren Stil und die Art, wie wir mit unseren Mitarbeiterinnen und Kunden umgehen, beibehalten. Die Arsipa ist ein Unternehmen, deren Konzept uns gefiel. Somit wurden wir mit unserer Praxis ein Tochterunternehmen dieser Holding. Kollege Reinke und ich sind in unserer Funktion als Geschäftsführer und ärztlicher Leiter weiterhin mit dabei.
Wahrscheinlich hat sich für Ihre Kunden und Mitarbeitenden nicht viel verändert, oder?
Die größten Veränderungen lagen im organisatorischen Bereich. Wir konnten uns modernisieren, was wir als kleiner Praxisbetrieb wahrscheinlich nicht gemacht hätten. Durch die Holding profitierten wir von den sogenannten Skalierungseffekten. Zum Beispiel lohnt es sich jetzt, eine teure Personal-Software zu kaufen und sie auf mehrere Schultern zu verteilen. Als kleinerer Betrieb würde man wahrscheinlich weiter mit Excel basteln und auf einem anderen Level bleiben.
Wir haben unsere Praxen immer erfolgreich geführt. Dennoch ist es etwas anderes, wenn Experten das produzierte Zahlenwerk objektiv betrachten und bewerten. Daraus ergeben sich zusätzliche Empfehlungen und Möglichkeiten, die wir uns selbst nicht hätten geben können. Wir konnten das Management professionalisieren und uns stärker auf unsere Kernaufgaben besinnen. Im ersten Jahr fällt viel Anpassungsaufwand an, was natürlich „eingepreist“ werden muss. Aber sobald diese Phase durchschritten ist, können wir die Früchte ernten.
Welche Leistungspakete bieten Sie Ihren Kunden an?
Einerseits gibt es vordefinierte Leistungen, die gesetzlich vorgegeben sind. Dazu gehören zum Beispiel klassische Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen.
Auf der anderen Seite kommt es darauf an, was ich meinen Kunden anbieten möchte. Das hängt von den eigenen Kompetenzen und Schwerpunkten ab, aber auch davon, wohin ich mich als Unternehmen entwickeln möchte. Hier bieten zum Beispiel präventive Aktivitäten im Bereich der Gesundheitsförderung und des Gesundheitsmanagements ein breites Betätigungsfeld.
Auch ist die Frage, was der jeweilige Betrieb braucht. Welche arbeitsmedizinische Aktion halte ich für sinnstiftend? Wir als Dienstleister verkaufen Beratungsstunden. Wir beraten zu den Themen, die uns in dem Moment als sehr wichtig für das Unternehmen erscheinen und unseres Erachtens prioritär behandelt werden sollten. Als die Corona-Pandemie aufkam, ging es hier ausschließlich um Hygiene- und Schutzmaßnahmen, später dann auch um Impfungen. Das war sicherlich eine Ausnahme. Wenn wir allerdings feststellen, dass psychische Belastungen im Unternehmen auffallend zunehmen und dadurch die Krankenquote steigt, werden wir empfehlen hierzu Gegenmaßnahmen zu entwickeln.
Wir unterstützen bei Gefährdungsbeurteilungen und machen dazu Angebote. In unserem Team gibt es eine Fachärztin für Psychosomatik und einen Arbeitspsychologen. Mit den beiden möchten wir uns hier zum Beispiel noch besser aufstellen. Es kommt immer auch darauf an, inwieweit die Betriebe bereit sind, Geld in Prävention mentaler Gesundheit zu investieren.
Grundsätzlich sind wir mit unserem Ohr immer ganz dicht am Markt und handeln, sobald wir neue Bedarfe erkennen.
Woher haben Sie sich das Wissen geholt, welches sie originär als Arzt ja nicht mitbringen konnten?
In einige Themen habe ich mich selbst hinein gefuchst. Bei anderen habe ich mir Unterstützung von Beratern geholt. Da hat aber jeder seinen eigenen Weg. Der eine erkennt hier vielleicht plötzlich ungeahnte Talente im Vertrieb und akquiriert sehr erfolgreich seine Kunden. Der andere verfügt über ein hervorragendes Zahlenverständnis und baut seine Buchhaltung selbständig auf und aus. Da fängt die Kreativität schon an.
Voraussetzung für die Selbständigkeit ist ein gewisses Verständnis für Zahlen. Es ist sehr wichtig, Entwicklungen einschätzen zu können, ohne ständig Bücher prüfen zu müssen. Mit solch einem Grundgefühl lassen sich die größten Fehler wohl vermeiden.
Was ist der signifikante Unterschied, als Arbeitsmediziner selbstständig zu sein im Vergleich zur Angestelltentätigkeit? Was sind hier die besonderen Herausforderungen für Sie als Mediziner?
Als Selbstständiger Arzt habe ich deutlich mehr Möglichkeiten, Dinge zu gestalten. Der größte Unterschied liegt sicherlich darin, sich selbst und die Mitarbeitenden immer wieder zu motivieren und dafür zu sorgen, dass der „Rubel rollt“. Sowohl für sich selbst als auch für die Mitarbeitenden. Als Selbständiger trage ich das volle wirtschaftliche und rechtliche Risiko. Das muss ich mögen und sollte im Vorfeld für mich klären, ob ich diesen Stress möchte. Springt ein Kunde plötzlich ab, habe ich dafür zu sorgen, diese Lücke abzufangen und schnellstmöglich wieder zu schließen.
Menschen sind unterschiedlich. Der eine möchte aktiv mitgestalten können und der andere ist besser damit bedient, ein klares Aufgabengebiet zu haben, welches er engagiert und mit Freude erfüllt. Beides ist gleich wertvoll und wird gleichermaßen gebraucht. Ich muss mich immer fragen, was ich konkret möchte und dabei ehrlich mit mir bleiben.
Manchmal ändern sich Lebensphasen, die sich auf die Wünsche auswirken. Kolleginnen, die Kinder bekommen, haben ohnehin schon einen zweiten Schwerpunkt im Leben. Da ist in der Regel gar keine Zeit, großartige Überstunden machen zu können. Später allerdings, wenn die Kinder größer sind, möchten sie vielleicht ihren Fokus wieder stärker auf die Karriere legen.
Grundsätzlich sollte man der Typ dafür sein, andere Menschen mitnehmen zu wollen, von bestimmten Themen zu überzeugen und Verantwortung für sie zu übernehmen. Das sollte einem Spaß machen, sonst ist diese Art zu arbeiten zu anstrengend.
Mir war die Medizin allein ehrlich gesagt, immer ein Stück weit zu unkreativ. Die Aufgaben als Unternehmer haben die für mich fehlende kreative Komponente hereingebracht. Das sind zum Beispiel Fragestellungen wie welchen Standort wählen wir für die Praxis aus? Wie richte ich die Praxis ein? Welchen Drucker oder Computerprogramme brauche ich? Wer übernimmt die Buchhaltung? Dazu kommen natürlich auch Personalfragen, vertragliche Themen und wie ich Beziehungsmanagement zu Kunden oder Mitarbeitenden gestalte. Fast täglich kommen neue Fragen hinzu, die Entscheidungen fordern, wohin die Reise zukünftig gehen soll. Da gibt es einen riesigen bunten Blumenstrauß an kreativen Aufgaben. Gerade wenn man diese Themen im Studium nicht gelernt hat, braucht man ja schon ein bisschen Kreativität, um erfolgreich zu sein.
Gehen Sie selbst auch noch mit in die Beratung zum Kunden?
Ja, tatsächlich habe ich auch noch ein paar eigene Kunden, um die ich mich kümmere. Aber natürlich ist das immer weniger geworden, was in der Natur der Sache liegt. Je mehr Personen im Unternehmen tätig sind, desto häufiger ergeben sich weitere strategische Managementaufgaben. Aber auch das ist ständig im Wandel und orientiert sich am jeweiligen Bedarf
Gibt es Unternehmen, die Betreuungsleistung bei Ihnen anfordern, obwohl sie eigene Arbeitsmediziner im Unternehmen beschäftigen? Sei es, um Spitzen abzufedern oder eine externe Meinung zu hören?
Das kommt mal vor, ist aber relativ selten. Nicht allein deshalb, weil jeder versucht, erst mal die eigenen Leute einzusetzen. Wir wären über solche Aufträge ehrlicherweise auch gar nicht glücklich. Letzten Endes muss man schon wissen, wer eigentlich der Koch ist. Sicherlich kann man über Einzelprojekte sprechen, wo Manpower gebraucht wird. Da wäre es durchaus denkbar. Grundsätzlich sollte es aber klar sein, wer für die Betreuung zuständig ist. Ich habe bei solchen Modellen nicht immer nur gute Erfahrungen gemacht. Wenn zum Beispiel Aufgaben abgegeben werden, die kein anderer machen will.
Es gibt Modelle, die den Kunden Verträge anbieten, ohne richtig hinterlegt zu haben, wie sie erfüllt werden können. Wo zu wenig eigene Ärzte und Ärztinnen gibt, um die Aufgaben übernehmen zu können. Wenn festgestellt wird, jetzt brauchen wir tatsächlich mal einen Arzt, wird irgendeiner gesucht, der Zeit hat. Der „mal eben was macht“, danach aber wieder geht. Aus meiner Sicht sollten Betriebe auf diese Art nicht betreut werden. Klar helfen wir mal aus, wenn Not am Mann ist, aber es sind keine Modelle, die wir fördern möchten.
Wir sind im Prinzip nur über Mundpropaganda, sprich Empfehlungsmarketing gewachsen. Wir haben eigentlich nie viel unternommen und hatten auch keine Probleme zu wachsen. Das haben wir der aus unserer Sicht halbwegs vernünftigen Betreuung erreicht. Wir wollen uns gesund und nachhaltig in der Region durchsetzen durch Qualität, Zuverlässigkeit und eine konstante vernünftige Betreuung.
Für die Unternehmen ist es sicherlich wünschenswert, wenn sie einen guten Partner haben, auf den sie sich verlassen können und der sie kontinuierlich betreut.
Diese konstante Betreuung stellen wir mit unserem neuen Konzept noch einmal mehr sicher. Wenn Kollegen oder Kolleginnen fehlen sollten, können wir aus dem gesamten Pool der Organisation der bestehenden Holding-Struktur schöpfen. Das war auch mit einer der Gründe für unsere Umstrukturierung. Wir haben neben einer breiteren Plattform auch ein großes Netzwerk, in dem wir uns zusätzlich austauschen können. Wir merken sehr gut, dass unser Konzept funktioniert. Wenn ein Kunde zum Beispiel in Hannover eine Betreuung braucht, fahren wir hier aus Hamburg in der Regel nicht mehr dorthin. Wir aktivieren die Partnerpraxis vor Ort, die sich dann um den Kunden kümmert. Das ist sowohl für den Kunden als auch für uns als Ärzte besser. Trotzdem bleibt man für Fragen verfügbar. Diese Regionalisierung gefällt mir sehr gut.
Wie sehen Sie den heutigen Stellenwert des Themas „Gesundheit bei der Arbeit durch Prävention“? Haben Sie das Gefühl, dass die Offenheit dafür in den letzten Jahren gestiegen ist?
Das denke ich schon. Gerade die Corona-Pandemie hat aufgezeigt, wie schnell sich die Dinge plötzlich ändern können. Eine Extrem-Situation mit einer Erkrankung umgehen zu müssen, die die gesamte Gesellschaft durcheinanderwirbelt. Daneben steht das große Thema Fachkräftemangel, welches verdeutlicht hat: „Oh, nicht an jeder Ecke steht ein fünfundzwanzigjähriger Modellathlet mit einer Top-Ausbildung“.
Beides hat dazu geführt, dass Arbeitgeber sich verstärkt Gedanken über das Thema Gesundheit am Arbeitsplatz machen.
Sie umtreibt die Frage: „Wie stellen wir uns zukünftig auf, um im Falle schwieriger Zeiten trotzdem gut dazustehen? Was können wir heute dafür tun, damit unsere Mitarbeitenden, die gut eingearbeitet sind und Spezialkompetenzen haben, gesund bei Laune und auch später im Alter leistungsfähig bleiben? Beziehungsweise, wie setzen wir sie sinnvoll ein, wenn sich die Leistungsfähigkeit gewandelt hat? Auch wenn sie gesundheitlich eingeschränkt sind, möchten und können wir zukünftig auf deren Kompetenzen und Erfahrungen nicht verzichten“.
Heute ist deutlich mehr möglich als noch vor 20 Jahren. Damals war man damit beschäftigt, eine großzügige Vorruhestandsregelung zu finden. Das hat sich verändert. Prävention hat erheblich an Akzeptanz gewonnen.
Wie haben sich die Anforderungen seitens der Unternehmen seitdem verändert?
Erstaunlich finde ich, dass insbesondere diejenigen, die Gesundheitsschutz vorher nicht kennen wollten, plötzlich ein sehr hohes Anforderungsprofil forderten. Unternehmen kommen seitdem häufiger auf uns zu mit der Bitte arbeitsmedizinische Leistungen auszubauen. Die Aufgabenfelder hingegen haben sich durch die Pandemie nicht so sehr verändert, abgesehen vielleicht vom Thema „psychische Belastung“. Das war vor der Pandemie schon als Trend erkennbar, jetzt aber einen ordentlichen Booster erhalten und in den Vordergrund gerückt.
Auch die Veränderungen, die die Pandemie für alle mitgebracht haben, wie zum Beispiel das Thema Homeoffice. Daraus sind neue Fragestellungen entstanden.
Apropos Homeoffice: Sind Unternehmen bereit dafür zu sorgen, dass der Arbeitsplatz auch zu Hause vernünftig eingerichtet ist?
Das ist unterschiedlich. Die einen empfinden diesen Wandel als positiv. Andere wiederum drehen die Uhren zurück und wollen ihre Leute wieder ins Unternehmen zurückholen. Aber Unternehmen kommen nicht drum herum, zu überlegen, wie sie damit umgehen wollen, dass Mitarbeitende nicht dauerhaft vor Ort sind.
Es gibt tatsächlich Unternehmen, die zu den Mitarbeitenden nach Hause kommen und sich dort ansehen, ob die Büroausstattung wie Schreibtischstuhl, Schreibtischhöhe und Leuchte etc. richtig installiert sind. Oder sogar helfen, die Arbeitsplätze mitzugestalten. Teilweise werden Ausstatter von Unternehmen beauftragt, bei denen die Mitarbeitenden ihre Büromöbel aussuchen können.
Andere wiederum ignorieren das Thema bewusst und reduzieren dadurch die Arbeitgeberpflichten. Das passiert zum Beispiel, wenn Arbeitgeber der Meinung sind, sie müssten keinen Arbeitsplatz einrichten, weil ihre Mitarbeitenden sowieso von überall aus mobil arbeiten. Gerade im IT-Bereich gibt es häufig Mitarbeitende, die nicht zu Hause oder ganztägig im Großraumbüro sitzen und arbeiten wollen. Sie switchen zwischen Café, Park oder Zug. Hier müssen wir individuell schauen, was in welche Branche passt. Und welche Unterstützung in der Gesundheitsförderung nachhaltig wirksam ist.
Wir können keine Lehre über alles ziehen und einheitlich vorgeben, wie es zu sein hat. Das wäre aus meiner Erfahrung her falsch. Das Schöne beim Aufbrechen dieser traditionellen Arbeitswelt ist die Tatsache, dass wir individualisieren können. Wir müssen unterscheiden: Was für den einen gut ist, ist für den anderen vielleicht nicht das richtige. Unsere Beratung zielt darauf ab, dem einzelnen Menschen den für ihn optimalen Weg aufzuzeigen. Wenn wir erreichen können, die Verschiedenheit zur Norm zu machen, sind wir meines Erachtens auf einem sehr guten Weg.
Auch für die Führungskräfte eine neue Herausforderung
Früher gab es ein Meeting, an dem alle Kollegen und Kolleginnen in Präsenz teilnahmen. Heute sitzt die eine Hälfte im Büro und die andere mit den Kindern im Homeoffice oder an der spanischen Südküste. Ich muss als Führungskraft trotzdem alle erreichen und meine Beziehung mit allen pflegen können. Wie mache ich das über digitale Kanäle? Wir funktioniert Teambildung unter solchen Bedingungen. Ein ganz spannendes Thema. Da können wir aus der Arbeitsmedizin einwirken. Wo verorten wir das? Welche Untersuchungen gibt es dazu? Was beobachten wir? Welche Probleme treten auf? Wie gehen wir damit um? Welche Arbeitsweise macht Mitarbeitende glücklicher oder auch unglücklicher?
Wir rennen der Entwicklung gerade etwas hinterher. Die Digitalisierung war plötzlich so schnell da, weil technisch so viel möglich ist. Vieles wird gemacht, aber wir können noch nicht abschätzen, was am Ende Fehlentwicklungen waren und was gut funktioniert hat. Wir stecken mitten im Prozess. Nicht für alle ist das Homeoffice eine gute Idee. Diese Themen haben sich im Bereich Arbeitsmedizin neu entwickelt. Die kannten wir vorher nicht. Aber Entwicklungen gehören seit eh und je zum Leben – auch Berufsleben dazu. Sonst würden wir ja noch in den Höhlen sitzen 😉
Was empfehlen Sie Kollegen, die über den Schritt nachdenken, in die Arbeitsmedizin zu wechseln?
Gute Chancen und Optionen in der Arbeitsmedizin
Wir brauchen Arbeitsmediziner*innen. Das ist unstrittig. Schön ist es, dass wir immer wieder mit Ärzten und Ärztinnen Kontakt haben, die sich für die Arbeitsmedizin interessieren. Sie kommen in der Regel aus der Klinik oder auch aus Niederlassungen kurativer Praxisgebiete aus dem ambulanten Bereich. Kollegen und Kolleginnen, die sich Arbeitsmedizin anstelle oder ergänzend zu ihrer bisherigen Tätigkeit vorstellen können. Die Bedingungen im niedergelassenen Bereich sind für kurativ tätige Ärzte in den vergangenen 20 Jahren nicht unbedingt besser geworden.
Hinzukommt, dass dieser Beruf schlichtweg familienfreundlicher ist, gute Möglichkeiten für hybrides Arbeiten und flexible Arbeitsbedingungen bietet. Das alles ist in der rein klinischen Medizin allein aus technischen Gründen relativ schwer umzusetzen. Wenn Sie im Labor arbeiten, können Sie kein Homeoffice machen.
Die Arbeitsmedizin lässt sich hervorragend kombinieren, zum Beispiel mit der Allgemeinmedizin. Es könnte für diejenigen eine Option sein, die gerne selbstständig arbeiten möchten, aber den Krankenkassen nicht mehr so richtig über den Weg trauen. Keiner weiß, welche Pläne der Gesetzgeber in Zukunft weiter aushecken wird.
Die Arbeitsmedizin bietet sich sehr gut an, um ein zweites Standbein aufzubauen und sich mit dem weiteren Sicherheitsanker unabhängiger zu machen. Gerade für die Kollegen und Kolleginnen, die selbstständig kurativ arbeiten möchten. Hier kann ich nur empfehlen, noch einmal 2-3 Jahre in die Weiterbildung zu investieren.
Sich individuell bei den Profis informieren
Am besten man führt ein Gespräch und trifft sich mit Menschen, die sich auskennen. In unseren Vorstellungsgesprächen stellen wir das Fachgebiet immer erst einmal vor. Die meisten bringen auch eine ganze Menge Fragen mit. In der Regel bieten wir Interessierten Hospitationen an. Sie reisen dann mit Kollegen mit, die schon länger dabei sind und gucken sich an, wie das reale Leben eines Arbeitsmediziners oder einer Arbeitsmedizinerin aussieht. Das halte ich für einen guten Weg, bevor man sich dafür oder dagegen entscheidet.
Persönliche Eigenschaften überprüfen und abgleichen
Dieses Fachgebiet fordert uns als Ärzte und Ärztinnen schon anders als üblich. Man braucht ein offenes Visier und eine große Neugier auf neue Themen. Ich sollte es mögen und Lust darauf haben, mit Menschen zu kommunizieren.
Es kommt selten jemand zu uns, der bedürftig ist und zum Beispiel über Schmerzen klagt. Unsere Aufgabe ist es, sich die gesamte Lebens- und Arbeitssituation der Menschen anzusehen und präventive Maßnahmen individuell für sie zu entwickeln. Auch wenn sie den Bedarf für sich an dieser Stelle noch nicht sehen, sollte ich es auf kommunikativer Ebene schaffen, sie von den Gesundheitsthemen zu überzeugen und zu begeistern. Ein breites und buntes Spielfeld.
In die Arbeitsmedizin zu wechseln, ist aus meiner Sicht ein sehr empfehlenswerter Schritt. 🙂