Praxisbericht Arbeitsmedizin: Prof. Monika Rieger, Universitätsklinikum Tübingen

Prof. Dr. med. Monika Rieger; Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, (c)Universitätsklinikum Tübingen
Fotografie: Verena Müller

Wie die Wissenschaftlerin aus Leidenschaft ihre Berufung in der Arbeitsmedizin fand

Geboren und aufgewachsen in Freiburg, absolviert die heute 53-jährige, abgesehen von einem einjährigen Abstecher nach Innsbruck, dort auch ihr Studium der Humanmedizin. Es folgen weitere Stationen wie Wuppertal, wo sie 2002 im Fach Arbeitsphysiologie und Arbeitssicherheit habilitiert. In Witten übernimmt sie ab 2003 für vier Jahre die Leitung des Bereichs Forschung, Kompetenzzentrum für ambulante Versorgung und Allgemeinmedizin an der Fakultät für Medizin, Universität Witten/Herdecke. Seit 2008 lebt und arbeitet Prof. Rieger in Tübingen, wo sie 2009 auf die Professur für Arbeits- und Sozialmedizin berufen wird. 2019 wird sie zudem Stellvertretende Vorsitzende, Zentrum für Öffentliches Gesundheitswesen und Versorgungsforschung Tübingen.

In ihrer Freizeit füllt sie ihren persönlichen Energiespeicher, frei nach dem Motto „Hauptsache Frischluft“, am liebsten mit Wanderungen, ausgedehnten Spaziergängen oder Radtouren wieder auf. Zudem genießt Prof. Rieger regelmäßige Besuche von Ausstellungen, Konzerten, Theater- und Opernaufführungen.

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Direkt nach Abschluss des Studiums „Humanmedizin“ begannen Sie mit der Weiterbildung zur Fachärztin Arbeitsmedizin. Was war hier der entscheidende Auslöser?

Gegen Ende des Studiums fing ich an zu überlegen, welches Fach ich zukünftig machen möchte und schwankte zwischen Neurologie und Pädiatrie. Ersteres gefiel mir wegen der Diagnostik, die mich sehr faszinierte. Aber letztendlich gab es damals wenig therapeutische Möglichkeiten für Ärzt*innen, da waren z.B. Logopäd*innen und Ergotherapeut*innen wichtiger.

Mit dem Thema Pädiatrie habe ich mich ebenfalls verstärkt und unter anderem auch im Praktischen Jahr beschäftigt. Allerdings hatte ich damals das Gefühl, dass nicht immer klar war, um wen es eigentlich geht: um die Eltern oder die Kinder – im Idealfall ja eigentlich um die ganze Familie. Dieser systemische Ansatz schien mir nicht immer möglich zu sein. Das empfand ich als anstrengend. Rückblickend spielte da wohl auch eine Rolle, dass ich während des Praktischen Jahres ja nicht in einer Praxis, sondern in einem Krankenhaus der Maximalversorgung arbeitete.

Da mir der Präventionsgedanke von jeher gefiel, entschied ich mich für die Arbeitsmedizin. Ich fing also direkt nach dem Studium damit an, was zugegebenermaßen ein eher ungewöhnlicher Schritt war. Die für den Facharzt notwendigen klinischen Ausbildungsabschnitte verbrachte ich nach der ersten arbeitsmedizinischen Tätigkeit zunächst in der Medizinischen Virologie, also Labordiagnostik von Infektionskrankheiten, und anschließend im Bereich der Inneren Medizin. Ersteres passte gut zu meinem ersten kleinen Forschungsthema „Zeckenbedingte Erkrankungen bei beruflich exponierten Personen“. Aber auch die Zeit in der Inneren Medizin war sehr interessant.

Ungewöhnlich: Habilitation vor Facharzt-Abschluss 

Danach folgte ich meinem damaligen Chef nach Wuppertal, wo dieser auf den Lehrstuhl für Arbeitsphysiologie und Arbeitsmedizin an der Bergischen Universität Gesamthochschule Wuppertal berufen worden war. Wir waren dort dem Studiengang Sicherheitstechnik zugeordnet, wo Sicherheitsingenieure, sprich spätere Fachkräfte für Arbeitssicherheit, ausgebildet wurden. Das hatte ein sehr interdisziplinäres Arbeiten zur Folge. Unser Forschungsspektrum erweiterte sich von rein eher medizinischen Themen wie Impfungen und arbeitsbedingten Infektionskrankheiten über muskuloskelettale Belastungen hin zu luftgetragenen biologischen Belastungen. Hier lag damals mein Forschungsschwerpunkt, und ich führte Studien im Bereich der Abwasser- und Abfallwirtschaft durch sowie in der Landwirtschaft. Es geht um die vielfältigen Expositionen, denen die Beschäftigten zum Beispiel in der Nutztierhaltung ausgesetzt sind, zum Beispiel durch Schimmelpilze oder Bakterien und deren Abbauprodukten in der Luft am Arbeitsplatz. In diesem Themenfeld habe ich schlussendlich meine Habilitationsschrift erstellt und mich habilitiert. Zu dem Zeitpunkt war meine Facharzt-Weiterbildung noch nicht abgeschlossen, was eher ungewöhnlich war. Für die Vervollständigung der arbeitsmedizinischen Weiterbildung arbeitete ich dann nochmals in einer Klinik, um den internistischen Part zu beenden und anschließend meine Facharztprüfung im Fachgebiet Arbeitsmedizin zu absolvieren.

Sie haben in den Bereichen Arbeitsmedizin und Arbeitsphysiologie habilitiert. War für Sie immer schon klar, dass Sie sich der Forschung verschreiben werden?


Mein Herz schlug von jeher für die Wissenschaft, auch wenn mir die ärztliche Tätigkeit ebenfalls sehr wichtig ist. Das Fach Arbeitsmedizin eignet sich meines Erachtens wirklich gut, beides zu kombinieren. Nicht zuletzt auch deshalb, weil hier einerseits guter Kontakt zu Proband*innen besteht, der nicht so sehr von Zeitdruck geprägt ist wie in der klinischen Tätigkeit, und andererseits sich aus der täglichen Arbeit immer wieder eine interessante arbeitsmedizinische Fragestellung ergibt. Wir können dem Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit beziehungsweise Krankheit wirklich auf den Grund gehen, wobei unser Fokus auf den Arbeitsbedingungen liegt. Gerade bei einer guten Zusammenarbeit mit Kolleg*innen aus anderen Fächern kann man hier für einzelne Beschäftigte sehr viel erreichen, damit diese erwerbstätig bleiben können.

Persönlich war mir die akademische Weiterentwicklung immer wichtig

Den Weiterbildungsassistent*innen sage ich häufig, wenn es darum geht, sich Zeit für die Analyse eines Problems zu nehmen: In der Arbeitsmedizin stirbt niemand. Hier gibt es geht es in der Regel nicht um medizinische Notfälle. Mir persönlich fehlen diese häufig dringenden ärztlichen Aufgaben aus der unmittelbaren Patientenversorgung überhaupt nicht. Aber es gibt ja auch betriebsärztliche Tätigkeitsfelder, wo die Notfallmedizin dazu gehört. Da mir persönlich die akademische Weiterentwicklung immer wichtig war, war es gut für mich, dass es neben meiner betriebsärztlichen Tätigkeit immer genug Freiraum gab, mich in die Forschung zu vertiefen. Mir war zudem auch immer schon wichtig, über den Tellerrand hinausschauen zu können. Auch hierfür bietet die Arbeitsmedizin eine gute Basis. Wir lernen Betriebe so gut kennen wie sonst kaum jemand. Und wir dürfen Fragen stellen, wie bei der Sendung mit der Maus. „Wie geht das?“ „Wie produzieren Sie das?“ „Ah, das setzt Dämpfe frei und was ist in den Dämpfen?“

Diese Breite von fachlichen Inhalten und Entwicklungsmöglichkeiten macht die Arbeitsmedizin meiner Meinung nach zu einem ganz tollen Fachgebiet.

Was macht Ihres Erachtens die Tätigkeit als Arbeitsmediziner*in in der Forschung aus? Wie ist das an Ihrem Institut geregelt?

Wie einige andere arbeitsmedizinische Hochschulinstitute auch sind wir selber betriebsärztlich aktiv und betreuen hierbei insbesondere unsere eigene Universität, sowohl die Beschäftigten als auch die Studierenden. Unsere hiesige Universität ist breit aufgestellt mit Fächern der Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, Robotik, Informatik und auch Medizin.
Zudem gehören zu unserer Universität auch Tierhaltung und Werkstätten mit den entsprechenden Berufen wie z.B. Elektriker, Schreiner, Hausmeister. Es gibt auch Gärtner*innen, die sich um unseren botanischen Garten kümmern. Entsprechend sehen wir in der betriebsärztlichen Betreuung ein sehr großes Tätigkeitsspektrum. Hinzukommt in Tübingen beispielsweise noch die umfangreiche geowissenschaftliche Forschung, die auch mit umfangreichen Reisen verbunden ist. Dies gilt auch zum Beispiel für die Tübinger Archäologie oder Paläontologie, die international tätig sind. Diese Beschäftigten müssen sowohl reisemedizinisch beraten werden als auch hinsichtlich Gefährdungen, die bei Ausgrabungen entstehen können.

Durch diese vielen unterschiedlichen Aufgabenstellungen ist die Tätigkeit unserer Betriebärzt*innen hier sehr vielschichtig und extrem spannend. Da wir betriebsärztlich eingebettet in ein akademisch ausgerichtetes arbeitsmedizinisches Institut arbeiten, können wir uns den Luxus gönnen, manches auch unter wissenschaftlichen Aspekten anzuschauen. Das ist dann schon das ein oder andere arbeitsmedizinische Highlight dabei, was mir viel Freude macht.

Auch wenn bei uns im Institut beides zusammenfließt, müssen Sie generell zwischen der wissenschaftlichen Tätigkeit und der betriebsärztlichen Betreuung von Forschungseinrichtungen differenzieren. Für mich ist die arbeitsmedizinische Forschung attraktiv, weil sie einerseits das Fach stärkt und andererseits auch Wissen für die praktisch tätigen Betriebsärzt*innen generiert. Damit hilft sie, die Arbeitsbedingungen aller Erwerbstätigen in Deutschland oder auch international zu verbessern. Gut gestaltete Arbeitsbedingungen sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Menschen länger arbeiten können. Aber es gibt Berufe, die sich in der Regel auch bei guter Ausgestaltung nicht dafür eignen, bis 67 darin zu arbeiten. Wie zum Beispiel Bauarbeiter. Hier sind wissenschaftlich basierte Konzepte gefordert, die der Politik gute Entscheidungsgrundlagen bieten.

Die Arbeitsmedizin, sprich die betriebsärztliche Betreuung in Forschungseinrichtungen, ist meiner Ansicht nach eine die Forschung und vor allem die Forschenden unterstützende Dienstleistung. Auch Forschende benötigen gute Arbeitsbedingungen – und sollen nicht Gefahr laufen, sich durch ihren Wissensdurst selber zu gefährden. Darüber hinaus werden viele Absolvent*innen von Universitäten und Hochschulen später als Führungskraft tätig sein. Diesen können wir und natürlich die Verantwortlichen für die einzelnen Lehrveranstaltungen und die Sicherheitsfachkräfte bereits im Studium das Thema Arbeitsschutz schon früh nahebringen. Sie erleben hier, dass Arbeitsschutz im besten Sinne gute Arbeit unterstützt und nicht behindert.

„Forschungsergebnisse können von Betriebsärzt*innen direkt umgesetzt werden“

Wenn es in unserer betriebsärztlichen Betreuung eine Fragestellung gibt, zu der wir selbst forschen, kommen die Beschäftigten, die wir betreuen, früher in den Genuss der Erkenntnisse als andere. Es kann auch passieren, dass Fragestellungen aus der Praxis bei uns schnell Ausgangspunkt von Forschungsfragen werden. Diese bearbeiten wir dann getrennt beziehungsweise zusätzlich zu unserer betriebsärztlichen Tätigkeit. Die Kolleg*innen, die bei uns in der arbeitsmedizinischen Ambulanz arbeiten und ihren Fokus auf die arbeitsmedizinische Weiterbildung beziehungsweise betriebsärztliche Tätigkeit legen, bekommen zudem mit, an welchen Forschungsschwerpunkten bei uns im Institut gearbeitet wird. Und manchmal stellen wir in einem eigentlich eher theoretischen Forschungsprojekt fest, dass wir hier praktischen Input benötigen. Hierbei werden die Forschenden im Institut dann durch die praktisch Tätigen unterstützt. Grundsätzlich ist es bei uns möglich, dass Ärzt*innen aus der Ambulanz für eine umschriebene Zeit in einem wissenschaftlichen Projektteam mitarbeiten.

Geben Sie uns einen Einblick: Mit welchen Fragestellungen beschäftigt sich Ihr Institut schwerpunktmäßig?

Der Fokus unseres Instituts liegt heute einerseits auf der arbeitsmedizinischen Versorgungsforschung und anderseits auf der arbeitsphysiologischen Forschung. Die beiden Forschungsschwerpunkte heißen etwas anders, unsere Aktivitäten in der Versorgungsforschung fassen wir unter der Bezeichnung „Gesundheitsforschung für Menschen im Erwerbsalter“. Damit wollen wir unseren Fokus deutlich machen, der nicht primär auf zum Beispiel Gesundheit von Kindern oder von hochaltrigen Menschen liegt. Hier geht es beispielsweise darum, wie gut Betriebsärzt*innen auf die Gesundheit der Beschäftigten einwirken können. Welche Schutzmaßnahmen werden akzeptiert und was denken die Beschäftigten darüber? Wie können Betriebsärzt*innen innerhalb des Systems gut mitarbeiten? Oder auch, wie sollten die Schnittstellen zur Reha- oder Hausarzt-Medizin gestaltet werden? Wie sollten betriebsärztliche Angebote so gestaltet werden, dass sie sowohl evidenzbasiert sind als auch den Betrieben gut angepasst werden können. Alle diese Fragen treiben uns um und werden unter der Leitung von Frau Dr. Rind bearbeitet.

Die arbeitsphysiologische Forschung findet im Forschungsschwerpunkt „Arbeitsbedingte Belastungen – Arbeitsgestaltung“ statt, der von Herrn PD Dr. Steinhilber geleitet wird. Hier wollen wir mit unserer Forschung einen Beitrag leisten, Arbeit gut zu gestalten. Und zwar so, dass sie bestenfalls gesundheitsförderlich, aber mindestens nicht schädlich ist. Wir wenden für das Erforschen der Wirkungen von Arbeitsbedingungen auf den Menschen in erster Linie arbeitsphysiologische Ansätze an. Dabei messen wir z.B. die Herzschlagfrequenz, Hautleitfähigkeit, die Muskelaktivität und Gelenkwinkel. Auch messen wir bei Menschen, die lange stehen müssen, wann sich Ödeme in den Unterschenkeln bilden, d.h. diese anschwellen. Darüber hinaus befragen wir Menschen, wie sie ihre Arbeit empfinden und ob sie gesundheitliche Beschwerden bei der Arbeit wahrnehmen.

Zur arbeitsphysiologischen Forschung gehören auch Experimente, zum Beispiel im Bereich manueller Tätigkeiten, Steharbeit oder zu psychophysiologischen Fragestellungen. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Sie kennen ja den Begriff „Jemand sitzt mir im Nacken“. Das kommt nicht von ungefähr, das heißt man kann die Aktivität der Nackenmuskulatur in unterschiedlich stressigen Situationen messen. Dafür steht uns ein Labor zur Verfügung, in dem wir Tests durchführen können. Zum Beispiel sorgen wir für eine Stresssituation, indem wir Probanden rückwärts rechnen lassen. Gleichzeitig müssen sie mit einer Hand bestimmte Bewegungen machen. Wir können in diesem Experiment durch verschiedene Erhebungsverfahren die körperliche Reaktion auf Stress messen. Zusätzlich befragen wir die Studienteilnehmenden dazu, wie sie sich fühlen. Die Studienteilnehmenden für unsere teilweise sehr aufwendigen Untersuchungen im Labor gewinnen wir vor allem über Anzeigen. Und natürlich erhalten diese Teilnehmenden dann auch eine Aufwandsentschädigung für die Mitwirkung an unseren Forschungsprojekten.

In Tübingen sind wir in einer glücklichen Situation, was unsere Möglichkeiten in Forschung und Lehre anlangt, da unser Lehrstuhl finanziell sehr gut ausgestattet ist. Dies liegt wesentlich an einem Kooperationsvertrag zwischen Südwestmetall, Universität, Medizinischer Fakultät und Universitätsklinikum Tübingen, der die Finanzierung des Instituts aktuell bis 2028 sichert. Inhaltlich ist dieser Vertrag sehr gut gestaltet und lässt uns die erforderliche Freiheit in Forschung und Lehre. Der sieht nicht nur finanzielle Unterstützung vor. Auch bei der Ansprache von zum Beispiel Studienteilnehmenden erhalten wir bei Bedarf Unterstützung durch Südwestmetall. Hinzukommt ein Netzwerk von Betriebsärzt*innen, mit dem wir bezüglich der Lehre und auch in Forschungsprojekten eng zusammenarbeiten. Darüber finden wir dank dieser Unterstützung aus der Praxis immer Betriebe, die wir mit Studierenden im Rahmen der arbeitsmedizinischen Lehrveranstaltungen begehen können.

Gibt es Errungenschaften, die Sie in der praktischen Arbeit umsetzen, die also sichtbar geworden sind aufgrund Ihrer Forschungsarbeiten?

Aktuell denke ich da zum Beispiel an das Thema Steharbeit. Wir haben am Institut unter der Leitung von Herrn PD Dr. Steinhilber die erste Stufe eines Risikoindexes entwickelt. Damit kann bestimmt werden, wie lange jemand bei der Arbeit stehen kann, ohne dass die Venen Schaden nehmen. Sprich sich zum Beispiel Krampfadern bilden. Wir befinden uns allerdings noch mitten in der Studie. Es wird noch ca. 1,5 Jahre dauern, alle Ergebnisse zu überprüfen und den Index ggfs. anzupassen. Sobald dieser validiert ist, werden wir dieses Bewertungsinstrument dann in unserer betriebsärztlichen Arbeit einsetzen, da ja viele Beschäftigte in Laboren im Stehen arbeiten. Darüber hinaus haben wir mehrere Studien zur Frage „Helfen Exoskelette?“ durchgeführt. Das sind die Geräte, die Sie anschnallen können, um z.B. größere Gewichte tragen zu können oder auch länger stehen zu können. Unsere Frage war „Helfen Exoskelette dabei, gesünder arbeiten zu können?“ Hierzu wurden am Institut mehrere umfangreiche Studien durchgeführt. Heraus kam tatsächlich, dass diese unterstützenden Geräte nicht einfach unkritisch eingesetzt werden dürfen. Parallel dazu wurde koordiniert von Herrn Dr. Steinhilber eine interdisziplinäre Leitlinie erarbeitet, damit Betriebsärzt*innen und Firmen auf möglichst gut abgesicherte Empfehlungen für den Einsatz von Exoskeletten zurückgreifen können.

In einem dritten Forschungsprojekt haben wir gemeinsam mit Forschenden aus anderen Kliniken und Universitäten in Deutschland ein Angebot aus kurzen Schulungen und Trainings entwickelt, mit denen psychische Belastungen und Beanspruchungen in Hausarztpraxenteams reduziert werden können. In der IMPROVEjob-Studie wurde evaluiert, wie die Arbeitszufriedenheit von Beschäftigten in Arztpraxen trotz der vielfältigen und hohen Anforderungen verbessert und der empfundene Stress reduziert werden kann. Ein weiteres m.E. schönes Projekt beschäftigt sich damit, wie Kurzpausen zum Beispiel im OP gestaltet werden sollten. Was ist besser? Kurz aus dem Fenster schauen oder besser Gymnastik-Übungen machen?

Wir forschen mit größtmöglichem Praxisbezug, entwickeln aber keine Produktlösungen. Das wiederum machen teilweise andere, die unsere Ergebnisse aufgreifen. Die Ärzt*innen, die mit dem Fokus auf die Betriebsmedizin bei uns arbeiten wollen, bekommen an unserem Institut früh Zugang zu diesen Forschungsergebnissen. Diese können sie in ihrer betriebsärztlichen Betreuung einsetzen und adaptieren.

Wie sehen Sie den heutigen Stellenwert des Themas „Gesundheit bei der Arbeit durch Prävention“ im gesellschaftspolitischen Kontext? Wie stark hat sich die Bedeutung aufgrund von Corona Ihrer Meinung nach verändert?

Natürlich hat das Thema durch die COVID-19-Pandemie eine ganz große Stärkung erlebt. Allerdings hatte es meines Erachtens schon vorher an Stellenwert gewonnen, wobei neben den großen Themen wie aktuell Infektionsschutz und davor bereits psychische Belastungen ein weiteres Thema ein bisschen unterzugehen droht. Gerade die muskuloskelettale Belastung, die zum Beispiel im Verkauf, der Produktion oder Warenlogistik einen großen Stellenwert haben kann, erfordert Aufmerksamkeit. Wie kann Arbeit und das Setting Arbeitsplatz gut gestaltet werden, damit Menschen gesund arbeiten können? Diese Thematik wurde von den Betrieben häufig gar nicht wahrgenommen, was im Rahmen der Pandemie noch mal sehr deutlich geworden ist. Denken Sie zum Beispiel an die COVID-19-Ausbrüche in den Schlachthöfen oder bei den Erntehelfern. Daran wurde deutlich, dass manche Rahmenbedingungen dieser Arbeit verbessert werden müssen. Wichtig ist mir im Rahmen der aktuellen Pandemie aber, dass es dank guter Infektionsschutzkonzepte möglich ist, dass viele Menschen weiterhin vor Ort gearbeitet haben. In vielen Firmen sind daran die Betriebsärzt*innen ganz wesentlich beteiligt. Die Universität Tübingen zum Beispiel war nie völlig geschlossen. Natürlich sind die Kolleg*innen, die im Homeoffice arbeiten konnten, auch zu Hause geblieben. Aber in den Laboren wurde weitergearbeitet. Mit Abstand, Maske und Lüftung. Wir hatten von Anfang an gute Hygienekonzepte und haben zum Beispiel bereits Ende Januar 2020 vor Dienstreisen gewarnt beziehungsweise zu besonderen Schutzmaßnahmen geraten. Reisenden nach China wurden damals FFP2-Masken mitgegeben. Da hat noch kaum jemand daran gedacht, dass die Pandemie nach Deutschland kommen könnte.

Ich glaube, dass die Pandemie den Fokus sowohl auf Gesundheit bei der Arbeit als auch auf Möglichkeiten einer gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung gestärkt hat. Allerdings klang dabei auch immer wieder die Grundhaltung an, Arbeit sei gefährlich oder potenziell etwas Schlechtes. Häufig wird Arbeit nur unter den Belastungs- und Risikoaspekten betrachtet. Was in der Diskussion dabei immer wieder untergeht und durch die Pandemie meines Erachtens ans Tageslicht gefördert wurde, ist die Tatsache, dass Menschen ihre Arbeit fehlt, wenn sie sie nicht mehr ausüben dürfen. Gute Arbeit ist wichtig für uns Menschen. Nicht nur, um Geld zu verdienen. Wir alle wollen Dinge gestalten und brauchen Bestätigung. Arbeit gehört zum Menschen. Es gibt diverse Studien darüber, dass Arbeit nicht nur soziale Kontakte fördert, den Tagesrhythmus prägt und das Selbstwertgefühl stärkt. Arbeit bietet sehr viele Entwicklungsmöglichkeiten und hält zudem fit. Damit es gut gelingt, muss Arbeit aber auch gut gestaltet werden. Daran zu forschen lohnt sich wirklich.

Mit welchen Aufgaben und Fragestellungen beschäftigen Sie sich zurzeit in Ihrer Funktion als Ärztliche Direktorin am Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung?

Wir beschäftigen uns derzeit mit einer ganzen Reihe an spannenden Forschungsprojekten. Ganz aktuell natürlich steht in einigen unserer Forschungsprojekte die Pandemie im Vordergrund vor allem mit Blick darauf, wie die Arbeitsbedingungen aktuell und auch bei künftigen Pandemien gut gestaltet werden können. Grundsätzlich soll Arbeit ja so gestaltet werden, dass nicht nur die „Superfitten“ berücksichtigt werden und ihre Arbeit verrichten können. Die Pandemie lehrt uns, dass wir diese Gestaltungsprinzipien auch bei allgemeinen Infektionserkrankungen wie zum Beispiel Grippe in den Blick nehmen sollte. Hier gab es bisher in jeder Grippe-Saison Menschen, die geimpft sind, und andere, die es nicht sind. Bisher wurde auf diese allgemeinen Infektionsrisiken am Arbeitsplatz außerhalb zum Beispiel des Gesundheitswesens nicht besonders Rücksicht genommen, nicht zuletzt auch, weil wir Grippewellen generell wenig Beachtung geschenkt haben. Das heißt, hier benötigen wir Konzept dafür, wie wir Arbeitsbedingungen auch unter dem Aspekt von Infektionsschutz gut gestalten können. Denn auch wenn nie alle gegen z.B. Grippe oder zukünftig COVID-19 geimpft sein werden, brauchen wir dennoch eine gewisse Form von Normalität. Wie gestalten wir also Arbeit, wenn ein neues Virus auftritt, das für einzelne Menschen bedrohlich sein kann? Wie gehen wir damit um, wenn sich nicht alle Beschäftigte mit einem Impfstoff davor schützen wollen oder können? Hier führen wir aktuell ein großes Forschungsprojekt durch. Wir brauchen hier meines Erachtens ein neues Bewusstsein. Aktuell und mit Blick auf die betriebsärztliche Tätigkeit müssen wir uns vor allem anschauen, welche Mutationsvarianten noch kommen. Delta wird nicht das Ende sein. Die Viren passen sich uns Menschen an. Ein Virus bleibt sozusagen in der Welt, solange seine Wirte überleben. Das SARS-CoV-2 wird also Formen entwickeln, die übertragbar sind, aber kaum mehr lebensbedrohlich. Allerdings ist es momentan noch ein Virus, was zu sehr schweren und tödlichen Krankheitsverläufen führen kann. Deshalb liegt ein wesentlicher Fokus aktuell auf dem betriebsärztlichen Impfen, um die Pandemie einzudämmen. Erst wenn das Virus in seiner (vorläufigen) Endversion vorliegt, werden wir wissen, ob nur die bezüglich eines schweren Verlaufs gefährdeten Personen geimpft werden müssen oder weiterhin möglichst viele Personen oder nur Menschen ab 50, 60 oder 65 Jahren. Diese Fragen treiben mich als Betriebsärztin in der Beratung der Arbeitgeber derzeit stark um, denn das wissen wir im Moment noch nicht.

In dem angesprochenen Forschungsprojekt zur COVID-19-Pandemie befragen wir zu bestimmten Zeitpunkten die Belegschaft verschiedener Unternehmen, wie es ihnen im Rahmen der Pandemie geht und wie sie die Schutzmaßnahmen (Maske, Abstand, usw.) empfinden. Wir wollen herausfinden, ob in bestimmten Bereichen wie zum Beispiel der Produktion, wo vor Ort gearbeitet werden muss und Abstände schwieriger eingehalten werden können, mehr COVID-19-Fälle auftreten als in Großraumbüros, in denen viele Beschäftigte derzeit gar nicht regelmäßig vor Ort sind, da sie mobil von zu Hause arbeiten können, und die übrigen vor Ort die Abstände sicher einhalten können. Hier geht es um ganz normale Arbeitsplätze, von denen man in politischen Äußerungen manchmal den Eindruck gewinnen kann, sie seien gefährlich. Der Eindruck und die Erfahrungen aus der betrieblichen Praxis zeigen dagegen, dass man Arbeit unter den Bedingungen der Pandemie auch vor Ort gut gestalten kann. Das muss aber natürlich erforscht werden. Genauso wie die gute Gestaltung der mobilen Arbeit von zu Hause.

Ein weiteres aktuelles Projekt beschäftigt sich mit der Fragestellung: Wie verändern digitale Innovationen die Arbeit der Beschäftigten? Das schauen wir uns am Beispiel von Hausarztpraxen an, eingebettet in einen Forschungsverbund, der von der hiesigen Allgemeinmedizin geleitet wird. Es geht um eine Symptom-Checker App. In eine solche App können Sie Ihre Symptome eingeben, zum Beispiel Kopfschmerzen, Heiserkeit und Fieber. Die App ermittelt dann mögliche Diagnosen und gibt Ihnen eine Empfehlung, ob Sie sich ärztlich untersuchen und beraten lassen sollten oder nicht. So ein Vorgehen kann natürlich die Kommunikation zwischen Patient*innen und Ärzt*innen verändern. Möglicherweise fallen in der Kommunikation Aspekte weg, die für die Ärzt*innen bisher wichtig sind und die bisher als Ressourcen im Hinblick auf die Bewältigung arbeitsbedingter Belastungen wirken. Möglicherweise kommt es aber auch zu einer Arbeitserleichterung. Vermutlich reagieren Ärzt*innen hier ganz unterschiedlich, wenn sie nicht mehr wie gewohnt arbeiten können. Das erforschen wir gerade und betrachten die Frage der Wirkung von digitalen Innovationen auch in anderen Tätigkeitsfeldern. Dabei geht es auch darum, Maßnahmen für diejenigen abzuleiten, bei denen diese Veränderungen im Bereich der Arbeitstätigkeit zu empfundenem Stress führen. Eine Lösung könnte sein, Fortbildung parallel zur Einführung neuer Technologien anzubieten. Aus meiner Sicht besteht hier noch einiger Forschungsbedarf mit Blick auf eine gute Gestaltung von Digitalisierungsprozessen. Es geht letztlich darum, digitale Innovationen besser, sprich für die arbeitenden Menschen gesundheitsgerechter zu implementieren.

Sie kommen ja eher von der wissenschaftlichen Seite, verantworten aber zusätzlich auch den betriebsärztlichen Dienst. Wie eng sind diese beiden Bereiche miteinander verzahnt? In wieweit profitieren Forschung und Praxis voneinander?

Das ist von Fragestellung zu Fragestellung unterschiedlich. Die Forschung profitiert von der praktischen Kompetenz der Betriebsärzt*innen bei uns im Team. Wenn hier direkt etwas ausprobiert werden soll, zum Beispiel, ob Betriebsärzt*innen gut mit einem neu entwickelten Formular umgehen können, was sie zu einem bestimmten Thema denken oder welche Erfahrungen in einem Feld gemacht haben. Umgekehrt profitieren die Betriebsärzte vom Know-how der Forschung. Wenn beispielsweise die Betriebsärzt*innen einen Fragebogen dazu entwickeln wollen, wie sehr sich Menschen bei Laborarbeit durch Gefahrstoffe belastet fühlen, können sie diesen Fragebogen zusammen mit den Wissenschaftler*innen im Institut entwickeln, die darauf spezialisiert sind. Das heißt diese wissen sowohl, wie man einen Fragebogen erstellen sollte und wie man ihn anschließend auswerten kann. So haben Wissenschaftler*innen hier im Institut schon einige Male die Betriebsärzt*innen in ihrer Arbeit durch wissenschaftliches Know-how unterstützt. Generell sind Betriebsärzt*innen, die in unserem Institut arbeiten, nah dran an der Forschung und bekommen Einblicke, was läuft. Dazu gehören auch Kongress-Besuche oder die Mitwirkung an den Fortbildungen für andere Betriebsärzt*innen, die wir hier am Institut anbieten. Das ist natürlich abhängig vom individuellen Interesse. Wer für einige Zeit an einem praxisorientierten Forschungsprojekt mitarbeiten möchte, ist herzlich willkommen. Und wer seinen Schwerpunkt auf die betriebsärztliche Tätigkeit legen will, kann das ebenso tun. Das darf jede und jeder für sich selbst entscheiden. Beides ist für uns völlig ok.

Was empfehlen Sie Kollegen, die über den Schritt nachdenken, in die Arbeitsmedizin zu wechseln?

Zunächst sollten sie tief in sich hineinhorchen, wie wichtig es ihnen ist, heilend zu arbeiten, Menschen bei Beschwerden unmittelbar zu helfen. Wie wichtig es ihnen ist, dass die Menschen die Linderung, die sie erfahren, direkt auf ihr ärztliches Tun zurückführen können. Diese Frage sollte sich jede und jeder vorab einmal stellen.

Betriebsärzt*innen wirken aus der Sicht vieler Menschen, um deren Gesundheit sie sich kümmern, eher im Hintergrund. Wir heilen in der Regel niemanden, sondern unser Fokus liegt darauf, dass die Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen haben. Oftmals wissen Mitarbeiter gar nicht, wo wir als Betriebsärzt*innen aktiv waren und auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen hingewirkt haben. Damit müssen wir umgehen können. Umgekehrt gesagt:

  • Wer Freude daran hat, Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass Menschen gar nicht erst krank werden,
  • Wem wichtig ist, etwas zu tun, was langfristig bleibt und wovon Beschäftigte noch in drei oder fünf Jahren profitieren,
  • Wer Spaß daran hat, mit Führungskräften zu diskutieren,
  • Und wer neugierig auf verschiedenste Arbeitsbedingungen ist…

… der ist in der Arbeitsmedizin richtig.

Zudem steigt die Relevanz der Arbeitsmedizin seit Jahren konsequent an. Der demografische Wandel hat dazu geführt, dass die Bedeutung jedes einzelnen Beschäftigten in den Unternehmen und Institutionen deutlich gestiegen ist. Wir brauchen ganz viel Wissen und ganz viel Erfahrung, aber gesellschaftlich kommen nicht so viele Beschäftigte nach, wie wir benötigen. Deshalb müssen wir uns in den Unternehmen und auf gesellschaftlicher Ebene um jeden Einzelnen kümmern. Wenn Menschen bis zu ihrem 67. Lebensjahr und darüber hinaus arbeiten können sollen, dann muss die Arbeit so gestaltet werden, dass es funktioniert. Sie sollen produktiv arbeiten, möglichst ohne Fehler und dem Unternehmen natürlich lange erhalten bleiben. Da stellt Arbeitsmedizin einen ganz wesentlichen Faktor dar. Betriebsärzt*innen werden in Unternehmen früh in Planungen eingebunden. So können sie frühzeitig eine Rückmeldung geben, wie sich Arbeit auf die Gesundheit der Mitarbeiter auswirkt.

Hier am Institut arbeiten wir durch unsere wissenschaftliche Tätigkeit im Feld der Arbeitsmedizin daran, die Grundlagen für die Empfehlungen zu arbeiten, um die die Betriebsärzt*innen in den Unternehmen gebeten werden. Für mich ist das ein tolles Forschungsfeld. Wir können Erkenntnisse gewinnen, die, wenn sie in den Unternehmen umgesetzt werden, für viele Beschäftigte von großer Bedeutung sein können.

 Herzlichen Dank für das Interview!